Während die einzelne Fotografie im Film nur eines von 24 Bildern in der Minute ausmacht, kann sie auch alleinstehend eine explosive narrative Kraft entfalten. Besonders bei den Werken des Fotografen Hansgert Lambers, dem das Berliner Haus am Kleistpark eine Retrospektive widmete, ist das feststellbar. So sieht es zumindest der Kurator der Schau, Matthias Reichelt. Durch Auswahl und Präsentation möchte er dieses erzählerische Element des Fotos besonders unterstreichen. Es werde nämlich "insbesondere in der Straßen- und Stadtfotografie" sichtbar, der sich der 1937 geborene Lambers seit jungen Jahren widmet.
In der Ausstellung zu seinem Lebenswerk sind Bilder aus sieben Jahrzehnten zu sehen. Aufgenommen hat sie Lambers in Barcelona, in Ost- und West-Berlin, der DDR, London, Ostrava, Paris und Prag. Einige dieser Orte, insbesondere Prag, hatte er auf Geschäftsreisen kennengelernt, die eigentlich nichts mit der Kunst zu tun hatten. Obwohl die Fotografie Lambers‘ lebenslange Passion war und ist, machte er sie nie zur Profession. Erst wurde er Ingenieur, dann Verleger. Bekannt wurde er unter anderem mit dem Buch "DDR – Frauen fotografieren" (1991), das er gemeinsam mit der Kulturwissenschaftlerin Gabriele Muschter herausbrachte.
Frustration als Treibstoff
Die Faszination für das Fotografieren erbte Lambers von seiner Mutter. Sie brachte die Familie in Kriegsjahren über die Runden, indem sie etwa Fleischermeister und Bäcker fotografierte, die ihre Bilder an die Front schickten. Dass Lambers kein hauptberuflicher Fotograf wurde, ist der Stellung geschuldet, die das Fotohandwerk zu Zeiten seiner Jugend hatte. Als er seine Karriere startete, fand er "das offizielle Bild der Fotografie gar nicht interessant", wie im Begleitbuch zu seiner aktuellen Schau im Haus am Kleistpark zu lesen ist. "Im Porträtstudio mit einer Großformatkamera Oma und Enkel abzulichten, war damals kein Ziel für mich." Einmal habe er aus Frustration gar ein ganzes Jahr lang kein einziges Foto gemacht. In der Branche sei damals nämlich "nichts passiert". So erscheint es folgerichtig, dass Lambers seinen Broterwerb auslagerte und diese Frustration in freien Stunden kanalisierte. Auf den Pfaden zweier Ikonen der Straßenfotografie, Henri Cartier-Bresson und Vivian Maier, entwickelte er so seinen ganz eigenen fotografischen Blick.
Hansgert Lambers widmet sich in seiner Arbeit stets den Menschen und Umgebungen, aus denen scheinbar mühelos die bemerkenswertesten Geschichten sprechen. Seine Werke summieren sich zu einer visuellen Chronik, die er über Jahrzehnte zusammentrug. Aus ihr lässt sich unter anderem lesen, wie sich Berlin und seine Bewohnerinnen und Bewohner über die Jahrzehnte vom Rand ins Zentrum der kulturellen Bundesrepublik entwickelten. Viele seiner Werke erzählen auch die Alltagsgeschichten von Menschen, die in der DDR und verschiedenen ehemaligen UdSSR-Staaten lebten.
Alltägliche Augenblicke
Die alltäglichen unter Lambers' Bildern erlauben nicht nur den Blick in die Vergangenheit. Sie starten eine Art Rückführung in das Leben der eigenen Vorgänger. Eine der Fotografien zeigt einen Verkäufer, der im Jahr 1982 neben einem Herrenausstattungsgeschäft in Schwerin steht. Läden dieser Art sind beinahe ausgestorben, die meisten Verkäuferinnen und Verkäufer sind heute Angestellte großer Ketten. Was ist aus dem Verkäufer geworden, als acht Jahre nach Aufnahme des Bildes die Mauer fiel? Was geschah mit seinem Laden, als Fast-Fashion die Oberhand gewann und die Krawatten aus den Büros verschwanden? Die Geschichte schreibt sich in den Gedanken der Betrachterinnen und Betrachter fort, geleitet durch den Blick des Fotografen.
Lambers‘ Werk "An der Friedrichstraße" aus dem Jahr 1975 wird noch viel mehr als das Bild des Verkäufers zum Zeitzeugen der Weltpolitik. Ausgestattet mit einem Schlitten spielen Kinder im Schnee. Sie befinden sich in einer der Brachen, von denen es in Berlin zu Zeiten der deutschen Teilung viele gab. Dass eine solche im Herzen einer Weltstadt bestehen konnte, erschien schon damals vielen unverständlich. Heute ist es völlig ausgeschlossen, dass sich an der historisch so bedeutenden Friedrichstraße, an der sich einst auch ein Grenzübergang zwischen Bundesrepublik und DDR befand, ein derart verwaister, unbebauter Fleck befände. Inmitten der Stadt, in der sich der Ost-West-Konflikt zugespitzt hatte, spielen Kinder im Dazwischen, während die politische Welt um sie herum brennt.
Neben Alltags- und Zeitzeugenwerken schuf Lambers insbesondere in jüngsten Jahren auch solche, die vor allem durch Humor bestechen. So zeigt eine Fotografie, die im Jahr 2017 am Wiener Judenplatz aufgenommen wurde, eine Gruppe von Touristen, die Segway fahren. Ausgestattet mit Helmen scheinen sie sich nicht darauf einigen zu können, in welche Richtung sich die Gruppe mit ihren Elektro-Zweirädern bewegen soll. Der Mann im Zentrum der Fotografie schießt ein Foto mit seinem Smartphone, während sich seine Mitfahrenden abgewandt haben. Wie schon vor Jahrzehnten gelingt es Lambers noch immer, das Alltägliche abzulichten – und darin Zeitgeschehen, Gesellschaftskritik oder schlicht den ironischen Humor des Jetzt festzuhalten.
Trost und Trauer
Kurator Matthias Reichelt platzierte in der Ausstellung vordergründig Werke wie diese, die auf bescheidene Weise ihre völlig individuellen Hintergründe erzählen. Die meisten Fotografien sind eher konservativ gehängt und dürfen für sich selbst stehen. Das erwähnte Werk "An der Friedrichstraße" machte Reichelt zum prominenten Zentrum der Ausstellung, das wandfüllend über dem sonstigen Geschichtengewimmel thront. Wer schließlich einen Raum am Rande der Ausstellung betritt, wird überrascht: Verschiedene, teilweise zurückhaltende Porträts, die sich kleinformatig zur fotografischen Wolke formieren, umspielen die Betrachtenden.
Mit der Bildwolke schafft es der Kurator, das Gefühl visuell zu verkörpern, das über den Werken Lambers' schwebt – und unterstreicht seine These des Fotos als gefrorener Film. Die Wolke ordnet Betrachterinnen und Betrachtern, zwischen all den Gesichtern stehend, ihre anonyme Position in der großen Stadt zu. Angesichts der von Lambers festgehaltenen Menschen, Orte und Geschichten, könnten sich so manche oder mancher von ihnen in ihrer oder seiner vergänglichen Existenz im Augenblick wiederfinden. Wie auch das Gezeigte ist ihr Erleben "on the fly": Sie sind geworfen in das unabdingbare Jetzt, dem sie nicht entkommen können. So werden Lambers' Fotografien ebenso zum Symbol des Vorbeiziehenden und Endlichen, wie sie eine tröstende Nachricht verbreiten: Zumindest allein ist damit niemand.