"Die Straßenbahn sieht man dahin elektrisch nur so fliegen, das gibt ein Hauptvergnügen!", liest es sich auf einer historischen Postkarte um 1900. Damals galt die Straßenbahn allerorts als innovatives Verkehrsmittel. Denn anders als im Pferdewagen wurden durch die Schienen jegliche Erschütterungen minimiert. Die Möglichkeit des bequemeren Reisens von A nach B war sehr verlockend. Fast jede Stadt wollte daher so ein Schienenfahrzeug haben. Auch die Stadt Chemnitz. Hier eröffnete man 1880 die erste Pferdeeisenbahn. 1893 nahm dann die erste elektrische Straßenbahn ihren Betrieb auf. Seitdem entwickelte sich das Verkehrsmodell stetig mit der Stadt und ihren Veränderungen und ist bis heute fester Bestandteil des Verkehrs.
An einem sonnigen Vormittag gleitet just diese Straßenbahn am Stadtteil Kaßberg entlang. Weiter führt ihr Weg vorbei am Industriemuseum, wo man alles über Chemnitzer Erfindungen und Sachsens Industriekultur erfährt. Auf der rechten Seite führt der Weg vorbei am Straßenbahnmuseum, das in seinem Depot noch die eine oder andere historische Rarität beheimatet. Der moderne Zug schließlich hält an der Endstation. Schönau. Von hier ist es nicht mehr weit bis zum Clubkino Siegmar, einem der ältesten Lichtspielhäuser der Stadt.
Schon das Treppenhaus des denkmalgeschützten Gebäudes ist eine Augenweide. Jugendstil vom Feinsten. Während im Erdgeschoss immer noch das ganz große Kino auf die riesige Leinwand projiziert wird, liegt im Obergeschoss die Chemnitzer Filmwerkstatt verborgen. Hier haben in der Vergangenheit schon viele cineastische Träume Flügel bekommen, und manch große Idee hob hier regelrecht ab.
Kreativ, bunt und reich an cineastischen Luftschlössern
So auch die von Susann Herrmann-Jenkner. Die couragierte Theaterpädagogin nämlich wollte eine ganze Straßenbahn in die Luft bringen. Klingt verrückt. Ist aber wahr. Der Traum vom Fliegen begann bei der beherzten Frau mit den langen dunklen Haaren vor gut zwei Jahren. Als damals die Coronapandemie das kulturelle Leben in der Stadt lahmgelegt hatte, wollte Susann Herrmann-Jenkner diese Situation nicht einfach so hinnehmen. Menschen, die auf unbestimmte Zeit einsam zu Hause herumsaßen? Die sozial engagierte Theaterpädagogin war entsetzt. Also rief sie kurz entschlossen ein Filmprojekt ins Leben, das die Stadtbewohner trotz Abstand zusammenbringen sollte. Wenn man schon keine Kulturorte besuchen konnte, musste der Kulturort eben zum Menschen kommen. Eine Idee für dieses Vorhaben war schnell gefunden: Wie wäre es mit einem Film über die Stadt, über ihre Straßenbahnen – über das Fliegen? Realisiert werden sollte der experimentelle Streifen von Menschen, die sich zuvor nicht einmal kannten. Menschen aus verschiedenen Generationen. Menschen aus Chemnitz – kreativ, bunt und reich an cineastischen Luftschlössern.
Einer von ihnen war Stefan Schweninger, Schauspieler und Regisseur. Er ist seit Langem eine feste Größe in der Chemnitzer Theaterlandschaft, war viele Jahre Ensemblemitglied am Schauspiel Chemnitz und leitete schon zu DDR-Zeiten manch kleines Arbeitertheater. Schweninger arbeitete schon lange vor diesem Projekt mit Laienschauspielern, wie er selbst mit überraschend jugendlicher Stimme erzählt. Er kennt also alle Herausforderungen und Finessen.
Das weiß der Zweite im Bunde nur zu gut, Sebastian Steger von der Filmwerkstatt im alten Clubkino: "Stefan ist Theatermensch und kann sehr gut szenisch denken. Er weiß, wie man eine Geschichte gut in Schauspiel verpackt. Dafür ist er auf der Welt." Steger ist noch immer Feuer und Flamme für den wesentlich älteren Kollegen. Der nämlich entwickelte aus der anfänglich vielleicht etwas spinnerten Idee mit der Stadt und dem Rundflug eine komplexe Story mit verschachtelten Bezügen zur Chemnitzer Historie. Herausgekommen ist so eine sicherlich mehr als ungewöhnliche Flugreise in die Vergangenheit jener Stadt, die es so nicht mehr gibt. In den vielen einzelnen Szenen lässt Schweninger historische Figuren wieder lebendig werden – Menschen, die der Stadt viel verdanken und denen die Stadt mindestens ebenso viel verdankt. Die Liste reicht von Georgius Agricola, dem Vater der Mineralogie, über Bismarck, der auf der vergeblichen Suche nach seinem inzwischen verschwundenen Turm ist, bis zu dem auf dem Kaßberg geborenen Literaten Stefan Heym. Die Szenen sind kurz und daher auch gut für Laien geeignet.
Brückenschlag über Generationen hinweg
Und Laien gibt es viele in dem Projekt. Mehr als 25 Menschen haben daran bis dato mitgewirkt: Rentner, Schüler, Berufstätige. Die meisten hatten zuvor gar keine Ahnung vom Filmemachen, lediglich eine Grundbegeisterung für Chemnitz, fürs Schauspiel und natürlich fürs Kino. Der Jüngste ist gerade mal sieben Jahre alt, der Älteste ist Regisseur Stefan Schweninger. Und zusammengehalten wurde das alles von Sebastian Steger. Der ist Medienpädagoge aus Leidenschaft und gibt sein Filmwissen gerne weiter. "Es ist wichtig, dass man die Leute nicht sofort ins kalte Wasser wirft, sonst macht jeder, was er will", erzählt er. Erst mit ein bisschen Übung geht es ans Machen. Und für das Machen hat Steger ein Händchen. Das merkt man daran, wie wohlwollend und freundlich er über die Jugendlichen im Projekt erzählt. Der Erfolg gibt Steger mittlerweile recht: 2021 gewann seine Chemnitzer Filmwerkstatt gleich zwei renommierte Preise, Doppel-Gold sozusagen: den Förderpreis der DEFA-Stiftung für junges Kino und den Medienpädagogischen Preis Sachsens.
Diese Professionalität, gepaart mit dem Brückenschlag über Generationen hinweg, ist es auch, was Initiatorin Susann Herrmann-Jenkner bis heute an ihrem Projekt reizt. Es basiere auf einer Art Gespräch zwischen Menschen und Generationen. Es bringe alle zusammen, auch die unterschiedlichen Erfahrungen und Geschichten zu Chemnitz. "Es geht nicht darum, wie toll am Ende die Tricktechnik oder die Szenen geworden sind", sagt Herrmann-Jenkner, "sondern wie die Leute zusammengefunden haben."
Auch sie selbst spielt in ihrem Film mit. Aber sie steckte nicht nur ihr Gesicht mit hinein; sie steckte vor allem viel Zeit und Energie in die Sache. Geholfen hat ihr dabei ihre starke Vernetzung mit der Stadt. Das Straßenbahnmuseum etwa stellte ein historisches Modell für einen Dreh zur Verfügung. "Ich bin voller Energie, wie eine Aufziehpuppe", sagt Herrmann-Jenkner. Das sei manchmal eine Last, aber eigentlich ist es auch ein großes Glück. Und dann sind da noch die zahlreichen Jugendlichen. Etwa Jonas, 14, ein Technikfreak, der sich schon immer für Medienkram interessiert hat. In wenigen Stunden hatte er das Schnittprogramm erlernt, "sich sehr gut reingefitzt", wie Sebastian Steger erzählt. Er selbst sitze inzwischen nur noch daneben und müsse Jonas gar nicht mehr sagen, was er machen soll. Jonas schneidet wie ein Profi.
"Aus pädagogischer Sicht sehr wichtig"
Oder Ben, 14, der am heimischen Rechner 3-D-Modelle baut. Als Steger von Bens Talent erfuhr, zeigte er ihm sofort Fotos von der historischen Straßenbahn: "Schau mal, ob du was daraus machen kannst." Und Ben konnte. Eben noch hatten sie für die Flugszenen ein Straßenbahnmodell vor einen Greenscreen gehängt, schon einen Tag später aber hatte Ben ein 3-D-Modell der Tram entwickelt und animiert. Jetzt endlich konnte die Bahn fliegen. Auch in Chemnitz geht eben Hollywood.
Und Ben weiß nun, dass er Dinge bewegen kann – notfalls auch richtig große Dinge. "Aus pädagogischer Sicht ist das sehr wichtig. Dadurch fühlt er sich gebauchmiezelt, wie man in Chemnitz sagt", freut sich Steger. Das Mehrgenerationenprojekt ist inzwischen eins der geförderten Mikroprojekte im Rahmen der Vorbereitungen zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025. "Die Förderung hat mir die Bestätigung gegeben, dass es ein lohnenswertes Projekt ist und wir auf einem guten Weg sind", sagt Susann Herrmann-Jenkner mit Stolz in der Stimme. Wenn alles gut geht, soll der fertige Film nicht nur auf DVD zu sehen sein, sondern im Juni dieses Jahres auch vor Publikum gezeigt werden. Natürlich stilecht im traditionsreichen Clubkino Siegmar. "Ich freue mich so darauf, mit den Leuten zusammenzusitzen und sagen zu können: Das haben wir zusammen geschaffen!", schwärmt Herrmann-Jenkner. Mit der Straßenbahn geht es später zurück in die Stadt. Wenn sie anfährt, braucht man nur die Augen zu schließen, und sie hebt ab.