Eine Krise justiert die Prioritäten. Die Wochen des Lockdowns mögen die Bäckerinnen in uns erweckt haben, mögen soziale Beziehungen verändert, neue Formen der Solidarität entfacht und die Hemmschwelle der Videotelefonie niedergerissen haben. Doch sie haben uns vor allem einem näher gebracht. Fast niemandem zeigt man sich in dieser Zeit des Ausnahmezustands so verletzlich, direkt und häufig wie ihm: dem Netflix-Account.
Es ist eine einfache Gleichung. Mehr Zeit zu Hause, null andere Veranstaltungen und eine latente Überforderung angesichts der digitalen Eroberungszüge der Institutionen. Das Ergebnis: Die weltweitgrößte Streaming-Plattform verzeichnete im ersten Quartal 2020 rekordhafte 15.8 Millionen neue Mitglieder. Mehr als doppelt so viele als erwartet wurden. Auch andere Giganten wie Disney+ melden einen Zuwachs in Millionenhöhe. Es gibt sie wohl, die Gewinner dieser Ausnahmesituation. Doch die scheinbare Sonnenseite der Krisensituation täuscht, denn auf lange Sicht wird das wertvollste Gut der Anbieter knapp. Die Inhalte.
Die Branche ist im Aufruhr
Wie der Rest der Welt, sind auch die Produktionsstudios im Lockdown und an den Sets der Serien und Filme herrscht Drehstopp. Über Hollywood bricht die Welle der Arbeitslosigkeit, die Menschen durch das fehlende Sozialsystem der USA in Existenznöte bringt. Geschlossene Kinos zwingen Verleiher und Studios dazu, weit bis ins nächste Jahr geplante Filmstarts zu verschieben – die Branche ist im Aufruhr.
Sitzen wir also was den globalen Filmmarkt betrifft, bald auf dem Trockenen? Angesichts der Vormachtstellung der amerikanischen Medienkultur scheint das gar nicht so abwegig, wie es zuerst klingen mag. Selbst in Ländern mit einer starken eigenen Filmproduktion wie Deutschland oder Frankreich dominieren die US-Produktionen. Das fand Diana Crane, emeritierte Soziologie-Professorin, bereits 2013 in einer Studie heraus. Und das war noch bevor Netflix weltweit überhaupt verfügbar war. Wer ersetzt uns dann all die Filme, die von Seiten Hollywoods ausbleiben?
Die US-Kultur muss nicht immer die dominante sein
Schon früh – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – hat sich Hollywood zum weltweit größten Produktionsort für Filme entwickelt. Der Vorsprung hat sich über die Jahre noch ausgebaut. Über 700 Filme werden jährlich an der amerikanischen Westküste gedreht und finden von dort ihren Weg in die Kinos, Laptops und Home Cinemas auf der ganzen Welt. Die USA sind die Wiege unserer globalen Popkultur, und das betrifft nicht nur Filme. Auch in Kunst, Musik, Serien und sogar der Sprache gibt die US-amerikanische Kultur den Ton an und prägt mit ihrer enormen Vorbildfunktion auch indirekt die Produktionen der anderen Länder. Doch nur, weil das so war, muss es nicht zwangsläufig so bleiben. Eine Krise justiert nicht nur Prioritäten, sie lässt uns auch die Dinge hinterfragen.
Die Hollywood-Produktion wird ausdünnen, vielleicht gar ins Stocken kommen - und das zu einer Zeit, wo wir noch eine ganze Weile auf andere Formen der Kultur verzichten müssen. Die Pandemie trifft alle Produktionsorte von Kultur, aber vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt für Rezipientinnen gekommen, anders auf das zu schauen, was schon da ist. Eine Krise bietet auch immer die Chance, etwas auszuprobieren. Die entstehenden Lücken zum Beispiel mit neuen Formaten zu füllen, die wir durch den Fokus der amerikanischen Streaming-Giganten und der globalen Filmwelt sonst nie zu Gesicht bekommen.
Wir bräuchten Filme und Serien aus anderen Teilen der Welt, die in Qualität und Virtuosität in nichts nachstehen. Die uns die Augen für neue Geschichten öffnen würden. Solche, die es nicht bereits in dreifach abgekupferter Version mit Jennifer Aniston gibt. Glaubt man dem Filmdienst IMDb sind die meist gesehenen Filme aller Zeiten US-amerikanische. Man scrollt bis Nummer 31, bis man einen anderen findet ("City of God" aus Brasilien). Nun, da wir alle zu Streaming-Meisterinnen und -Meistern werden, sollten wir da nicht auch unseren Input auf das nächste Level heben?
Finden Nischen-Festivals und Streaming-Plattformen zusammen?
Die vergangenen Wochen haben die Welt nachhaltig aufgewirbelt und die kommenden Wochen und Monate werden prägend dafür sein, wie sie danach aussieht. Dass der großartige Film "Roma" (2018) über Netflix so vielen Menschen den Zugang zum mexikanischen Kino eröffnet hat, zeigt, dass sich der Blick über den Tellerrand Hollywoods lohnt.
In Zeiten einer Krise sind undenkbare Dinge plötzlich denkbar. Können sich die abgesagten Nischen-Filmfestivals mit großen Streaming-Plattformen zusammenschließen? Können wir Vertriebswege neu definieren und den Zugang zum globalen Filmmarkt für neue Länder öffnen? Müssen die komplexen Vertriebsrechte endlich einer globalen Verbreitung der Inhalte angepasst werden? Wie wunderbar es wäre, wenn in der Zeit, in der sich unser Bewegungsradius so eingeschränkt hat, sich die Welt auf andere Weise am Bildschirm öffnet. Eine Krise justiert nicht nur Prioritäten, sie lädt eben auch zum Träumen ein.