Netflix-Doku

"Das Dilemma mit den sozialen Medien": Kritik aus der Echokammer

Die Netflix-Doku "Social Dilemma" zoomt auf die disruptiven, gesellschaftlichen, psychologischen und politischen Krater, die soziale Medien in den letzten Jahren gerissen haben. Doch der Film ist Teil des Problems

Woher stammt die menschliche Eigenschaft, immer dann erst anzufangen ein Problem zu erkennen, wenn es eigentlich längst zu spät ist? Vor einigen Wochen schrieb ich mit einem Kollegen in Los Angeles. Seine Eltern in Santa Cruz wurden längst evakuiert, immer mehr seiner Freund*innen verlassen Kalifornien Richtung Vermont und dennoch will keiner so richtig wahrhaben, dass jährliche Waldbrände nun zum Ist-Zustand gehören und ein sicheres Leben eigentlich kaum noch möglich ist.

Das Gleiche gilt für den Umweltschutz generell. Wie kann es sein, dass Nachhaltigkeit über Jahrzehnte trotz aller Fakten und Erkenntnisse derart auf die lange Bank geschoben wurde? Auch ich konnte als Kind in den 1980ern wegen Smog tagelang nicht in den Kindergarten, und durfte später wegen Tschernobyl nicht nur keine Pilze mehr essen. Dennoch passierte lange nichts, und nun müssen die Kinder von heute versuchen, die gammlige Suppe auszulöffeln, die der weiße reiche Mensch und sein gieriger bestialischer Kampfhund namens Kapitalismus der Welt eingebrockt haben.

Seit Jahrzehnten sind sind es auch immer wieder Filme, die im Mainstream auf zu adressierende Diskurse hinweisen. Schon komisch, dass man als jemand, der in Deutschland zur Schule gegangen ist, bei dem Thema Holocaust im Kontext von Jugenderinnerungen zuerst an einen amerikanischen ("Schindler’s Liste") und dann an einen italienischen Film ("Das Leben ist schön") denkt. Oder als vor paar Jahren der prätentiöse Welterretter-Doku-Film "Before the Flood" mit Leonardo di Caprio zum Tresentalk wurde: "Ach, echt jetzt? Die Welt geht unter? Sag an. Und Rauchen ist wirklich nicht gesund? Bist du dir sicher?"

Zuletzt wurde viel über den Film "The Social Dilemma" (deutscher Titel: "Das Dilemma mit den sozialen Medien") von Jeff Orlowski diskutiert. Hier geht es um die disruptiven, gesellschaftlichen, psychologischen und politischen Krater, die soziale Medien und Tech-Unternehmen, nicht nur aus dem Silicon Valley, weltweit in den letzten Jahren hinterlassen haben. Dass man sich nach Edward Snowden und Cambridge Analytica überhaupt noch wundert, wie invasiv jene Technologien und vor allem Wirtschaftsmodelle sui generis sind, überraschte mich wiederum enorm.

Monstrum in Selfiegestalt

Aber wie gesagt, manchmal braucht es vielleicht so emotionalisierte und atmosphärisch erzählte Dramen, um auch die Fankurve hinter den Eckfahnen abzuholen. Fair enough. Jede Person, in deren Alltag Social-Media-Plattformen wie Instagram, Twitter, TikTok, Facebook auch nur irgendeine integrale Rolle im Alltag spielt, sollte sich den Film daher ruhig angucken. Wie viele Jobs werden heute durch die Arbeit in sozialen Medien definiert? Wie oft sind soziale Medien heute Eskapismus, Kommunikation, Lebensmodell, teils Berufung, aber auch "Ort für Inspirationen"?

Jeff Orlowski spricht mit vielen High-Tier-Ehemaligen der Branche und bekannten Kritiker*innen wie Jaron Lanier so wie der wie immer brillanten Shoshana Zuboff. Gerade frühere Entscheider*innen bei Facebook, Google und Twitter haben offenbar ein schweres Paket zu tragen und das dringliche Bedürfnis, der Welt unter großem aufopfernden Gestus ("Dass ich das hier wirklich mache") mitzuteilen, wie gefährlich das doch alles ist und dass sie ihren eigenen Kindern niemals ein Smartphone geben würden. Dieses Monstrum in Selfiegestalt, das wie Mark Sauron Dunkles im zuckrigen Schafspelz über die Welt bringt. Gibt’s hier irgendwo noch Meth?

Tristan Harris, früher Google und heute Mitbegründer des Center for Humane Society, umschreibt die Gemengelage zu Beginn recht eindeutig. Im Valley hocken vielleicht 50 fürstlich bezahlte Entwickler, größtenteils männlich, weiß, 30 bis 35, die eine Werbeplattform entwickeln, die weltweit von mehr als zwei Milliarden täglich genutzt wird und die großteils immer noch glauben, es gehe in Social Media um Freunde, Netzwerke oder Informationsaustausch. Facebook ist beispielsweise in Indien synonym zum Internet geworden, wie hier Tempo für Taschentücher – und nun behaupte keiner, das sei Zufall.


Auch Tim Kendall, der höchstpersönlich das erste Monetarisierungsmodell für Facebook entwickelte und später CEO von Pinterest und anderen Firmen gewesen ist, berichtet von seinem Pionierwerk irgendwie reumütig, indes aber nicht mit wenig brustschwellendem Stolz. Und kommen wir damit zum eigentlichen Punkt in dem Film.

Wobei hier im Konkreten weder dem Filmteam noch den Protagonist*innen ein Vorwurf zu machen ist. Aber die eigentliche Kritik, die hier formuliert werden soll, ist wie in Adornos Stahlbad im System zugleich befangen und gefangen. Ist es nicht interessant zu sehen, dass sich dutzende privilegierte Menschen mit Top-Abschlüssen erst über viele Jahre viele Millionen und dazu eine goldene Nase bei Google, Facebook und Co. verdienen, um dann aufzustehen und zu postulieren: Nein, nein, so geht das nun wirklich nicht.

Dieser immer wieder auftauchende Typus geläuterter, exaltierter Weltverbesserer, nachdem man jahrelang des Teufels PR-Manager gewesen ist? Wie oft ich auch in Berlin "ehemalige" Banker oder Werber getroffen habe, die plötzlich ohne Existenzdruck, mal was richtig Kreatives machen wollen oder sich auf dem Brandenburger Land "verwirklichen". Es ist zum Mistgabel schleifen.

Die eigentliche Echokammer ist der Kapitalismus

Was macht ein Kapitalist, wenn die Welt untergeht? Er spendet Geld und hat bestimmt noch drei gute Ratschläge parat. Das ist hier nicht viel anders. Alles, was in dem Film gesagt wird ist, ist so weit ich das als Medienkritiker sondieren kann, richtig und wahr. Ob nun allerdings die alleinige Rezeption eines Films mit kritischen Tönen, der wiederum für das Unternehmen Netflix produziert wurde, das genauso auf Wachstum und Expansion aus ist wie Google und Facebook, die Welt ändert oder gar verbessert – höchst unwahrscheinlich.

Dass man auch so etwas im Jahr 2020 noch sagen muss. Oft lässt einen aber gerade bei so plötzlich hitzig diskutierten Themen der Eindruck nicht los, dass auch für die meisten User, solche Medien wie ein Ablasshandel gesehen werden: "Habe ich gesehen, Awareness-Level 1 erreicht, gleich mal drüber posten." Das reicht natürlich nicht.

Denn eigentlich will hier Kapitalismuskritik betrieben werden – das lässt sich aus einer Millionen-Villa mit saftigen Rücklagen heraus aber schwer kommunizieren. So kommt man zu dem Schluss, den auch Lynn Fox, früher Communications bei Google und Apple zieht: "There is no bad guy." Als wäre das System ein muffig riechender Typ mit Hut und Mantel. Wer so ein Phantombild zeichnet, kann das Kopfgeld lange jagen. Die eigentliche Echokammer, der dieser Film und aber auch wir ständig zum Opfer fallen, ist und bleibt der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts. Aber statt das anzugehen, bewundern Menschen auf Instagram, TikTok und Twitter die frappierende Ähnlichkeit des brennenden kalifornischen Himmels mit der Filmkulisse von "Blade Runner 2049". Keine Pointe.