Rosa Elefanten bedeuten nichts Gutes. Das musste schon der angetüdelte Dumbo am eigenen Leib erfahren. Gegen Schluckauf hilft nur ein Rüssel voll Wasser, so Dumbos Mäusekumpel Timothy. Wenn das Wasser allerdings stark mit Champagner verdünnt wurde, kann es passieren, dass eine Horde rosa Elefanten mit Pauken und Trompeten aufmarschiert. Als die rosa Elefanten beginnen, sich wie die Karnickel zu vermehren, fragt Timothy dann doch einmal bei Dumbo nach: "Siehst Du, was ich sehe?" Und schon marschiert die Parade weiter.
Wer dieser Tage in der Gemäldegalerie in Berlin einen rosa Elefanten sieht, wird sich nicht weiter darüber wundern. Höchstens über den Erscheinungsort. Denn der farbenfrohe Dickhäuter steht plötzlich mitten im Raum, wenn man das Smartphone mit der geöffneten Augmented-Reality-App "Refrakt" auf den Sündenfall gemalt von Jan Gossaert richtet. Ist der Sündenfall nur eine alkoholbedingte Halluzination?
Nein, wohl eher nicht. Gegen diese Annahme spricht so einiges. Schmunzeln lässt mich dieser Gedanke dennoch einen Moment. Wie so vieles in den vier ausgewählten Räumen in der Gemäldegalerie, die Teil der Ausstellung "Objects in Mirror are closer than they appear" sind. Andernorts wird aktuell aus dem Spiel mit der Augmented Reality bitterer Ernst. Wenn die App "Ingress" auf Vorschlag ihrer Spieler zahlreiche KZ-Gedenkstätten in Deutschland und Polen zu Spielfeldern macht, werden historische Stätten geschändet. Die Spieler stört es nicht weiter, schließlich gilt es, mit dem Smartphone bewaffnet "Portale" einzunehmen. Offenbar gibt es für sie zur Fiktion keine Realität mehr, die so etwas wie ein Gedenken an die Opfer der Nationalsozialisten kennt.
Richtet man in der Gemäldegalerie sein Smartphone auf eines der 82 Gemälde, erscheinen 3-D-Installationen, wie ein rosa Elefant, interaktive Kunstwerke und Wahrnehmungsexperimente. Ein Stillleben fliegt aus seinem Rahmen, Josef und Maria werden von Google Maps auf ihrer Flucht nach Ägypten navigiert, Flugzeuge fliegen über den Köpfen der Heiligen Drei Könige und während des Jüngsten Gerichts erscheint ein Regenbogen am Himmel. In einigen Gemälden hebt sich einfach nur die Kleidung vom Hintergrund ab, ein Mantel flattert durch die Luft, der Wind wiegt sanft ein Kleid.
Die Verantwortlichen für diese Intervention im musealen Raum zeigen kurz ihr Gesicht. Statt zweier Utrechter Domherren hängen für einen Moment Carla Streckwall und Alexander Govoni als Tableau vivant im Rahmen. Ein Tag einmal quer über das Porträt der Herzogin von Parma gesprüht, verweist auf die Urheberschaft der beiden. Ganz so illegal, wie das virtuelle Graffiti einen kurz glauben lässt, ist die Guerilla-Aktion aber nicht. Die Gemäldegalerie wurde informiert, will aber nichts damit zu tun haben.
Refrakt ist die Abschlussarbeit von Streckwall und Govoni, die im Rahmen ihres Meisterschülerstudiums der Visuellen Kommunikation an der Universität der Künste in Berlin entstanden ist. Schon im Februar war nach einjähriger Entwicklungsarbeit in Kooperation mit einem Programmierer die Arbeit an der Augmented Reality App Refrakt abgeschlossen. Seither versuchen sie, Kontakt mit der Gemäldegalerie aufzunehmen und über eine mögliche Zusammenarbeit zu sprechen. Auf dem Handout zur Ausstellung ist noch zu lesen: "Bitte beachten Sie die Hausordnung des Museums, Refrakt ist keine öffentliche von den Berliner Museen zugelassene Ausstellung!"
An der Museumskasse weiß tatsächlich niemand Bescheid. Man möchte mich postwendend zurück nach Hamburg schicken. Am Wochenende solle ich wieder kommen, da seien die Computer im Untergeschoß wieder an. Da ich zu Hause in Hamburg selbst solch oder einen ähnlichen Computer habe, entschließe ich mich zu einem Anruf in der Presseabteilung. Auch dort weiß man von nichts. Das Museum sei so groß, man könne nicht alles wissen, ist die Antwort, man werde sich aber wieder bei mir melden, wenn man etwas in Erfahrung gebracht habe. Und während in der Presseabteilung die Quelle des Informationsflusses freigeschaufelt wird, scanne ich nach kurzer Suche der Ausstellung mit meinem Smartphone ein Gemälde nach dem anderen. Ich wünsche mir einen Freund wie Timothy herbei, mit dem ich mich über die Parade der virtuellen Bilder freuen kann.
"Me jus HANGIN around #ootd #badhairday #instamood #nofilter" postete @edelmann_35 vor 485 Jahren auf Instagram. @jan_j0ssaert gefällt das, er herzt das Selfie. Das Bildnis eines jungen Edelmannes von Jan Gossaert holt das Smartphone in die Gegenwart. Kritiker werden rufen: Was soll das? Wo ist da der Mehrwert? Was sagt uns das über die Kunstwerke der Alten Meister? Eine mögliche, sehr einfache erste Antwort lautet: Die Generation Smartphone findet über das virtuelle Museum Zugang zu den Werken vor Ort. Und das abseits von marktschreierischen Blockbuster-Ausstellungen, die für ständig fallende Besucherrekorde sorgen sollen.
Die Ausstellung in der Gemäldegalerie ist für Streckwall und Govoni ein Testballon. Sie wollen zeigen, was man im digitalen Raum so alles mit Bildern anstellen kann. Deshalb geriert sich die Ausstellung wie ein großes Wimmelbilderbuch. Aber es soll ja Museen geben, die versiert in Sachen Fundraising sind, den digitalen Raum nicht scheuen und wissen, wie man den Marketinggaul vor den Wagen spannt. Vielleicht stehen dann bald ein paar mehr Leute im Museum und fragen: Siehst Du, was ich sehe?
Die Ausstellung "Objects in Mirror are closer than they appear" ist noch bis zum 17. September 2015 in der Gemäldegalerie in Berlin zu sehen. Eine Preview der Ausstellung ist hier zu sehen. Es empfiehlt sich, die App Refrakt aufgrund der Größe des Programms vor dem Besuch der Ausstellung herunterzuladen.