Hundevideos könnte ich mir den ganzen Tag anschauen. Jeden Tag. Instagram hat das mittlerweile auch verstanden. Auf meiner Explore-Page werden mir fast nur Hundevideos und Hundefotos angezeigt. Jetzt gerade zum Beispiel ein Foto von einem süßen Welpen, der neben einer Taube in einem Hundekörbchen liegt. Ein Video von einem Schäferhundwelpen, der sich unter einem Sessel versteckt. Ein Video von einem Welpen auf einem Laufband. Und ein Video von einem blinden Hund, der sich wie verrückt über eine große Regenpfütze freut. Hunde tapsen unbeholfen durch die Gegend, liegen schlafend in Betten, kuscheln mit ihren Besitzer*innen und geben komische Geräusche von sich. Alles süß irgendwie. Oder zumindest entertaining. Cute Tiervideos sind der Safe Space im Internet.
Ein Buch und eine Ausstellung erklären jetzt, was es mit der allgegenwärtigen cuteness auf sich hat. Der Untertitel "Inseln der Glückseligkeit" mit Fragezeichen macht deutlich, dass das alles doch nicht so einfach ist. Und natürlich ist das nicht die erste Publikation, die sich mit dem Thema befasst. Die Kulturtheoretikerin Sianne Ngai hat bereits vor einigen Jahren ein Buch über die ästhetischen Kategorien "zany, cute, interesting" geschrieben, auf das sich hier bezogen wird. Der Katalog zur Ausstellung ist gewissermaßen die "Cute für Dummies"-Version, also ein Einsteigertext, der kein Wissen voraussetzt, der viel und einfach erklärt. Die zentralen Fragen: Ist cuteness Ausdruck einer Sehnsucht nach emotionaler Geborgenheit im Zeitalter digitaler Entfremdung? Ist cuteness eine süße Betäubungspille gegen die bittere Realität?
Rhetorische Fragen. Denn darauf kann jeder mit "ja" antworten, der sich einmal süße Tiervideos in den sozialen Medien angeschaut hat. Und selbst auf Twitter, wo unterschiedlichste Meinungen hart aufeinanderprallen und Menschen unerbittlich an den digitalen Pranger gestellt werden, ist man sich einig, wenn Tiervideos viral gehen: Cute! Mood! Wholesome!
"Schlüsselkategorie der Gegenwart"
Die Ausstellung war wahrscheinlich auch längst zu Ende geplant und die Katalogtexte beauftragt und geschrieben, als sich während des Lockdowns weltweit Millionen von Menschen tatsächlich auf ihre Insel der Glückseligkeit zurückgezogen haben. "Escape to your island getaway—however, whenever, and wherever you want", so bewirbt Nintendo das Videospiel "Animal Crossing: New Horizons". Man lebt und ackert als cuter Avatar mit cuten Mitbewohner*innen auf einer cuten Insel, die man selbst noch cuter machen kann. Man fischt und schwimmt, man hackt Holz und pflanzt Blumen, man richtet sein Haus ein und gestaltet die Insel. Der Rückzug auf die virtuelle Insel ist ein Kurzurlaub von der globalen Pandemie.
Was ist eigentlich cute? Eine "Schlüsselkategorie der Gegenwart" und "mehr als eine Tendenz in Alltag, digitaler Kultur und Gegenwartskunst", wird in der Einleitung erklärt. Kunst ist heute cute, Waren sind cute, Memes sind cute. Nett ist die kleine Schwester von Scheiße, heißt es. Wenn man "nett" sagt, meint man vielleicht doch etwas anderes. Und wenn man "cute" sagt, ist auch nicht klar, ob das aufwertend oder abwertend gemeint ist.
Das Spektrum der Gefühle ist weit, wenn es um niedliche Objekte geht, so Ngai. Zärtlichkeit kann in Aggression umschlagen. Ngai schreibt: "Niedlichkeit ist nicht nur eine Ästhetisierung, sondern eine Erotisierung der Ohnmacht, die Zärtlichkeit für kleine Dinge hervorruft, manchmal aber auch den Wunsch, sie weiter herabzusetzen oder zu verkleinern." Man muss nur an Hunde und ihre Besitzer*innen denken, die sie in Kinderkleidung oder seltsame Kostüme stecken. "Animal Cuteness" ist auch das erste große Kapitel im Katalog.
"Niedlichkeit hat Konjunktur in Alltag, Popkultur und Kunst"
60 internationale Künstler*innen sind Teil der Ausstellung, die in sechs thematische Cluster unterteilt ist. Die anderen Themenfelder sind: Übergänge, Fetisch, Kawaii, Schwarze Subkultur und smarte Maschinen. Und da die These lautet "Niedlichkeit hat Konjunktur in Alltag, Popkultur und Kunst" ist das Ergebnis ein Sammelsurium an Kunst und Alltagsgegenständen. Auf assoziative Kurztexte zu Kunstwerken und Gegenständen folgen thematische Essays, die auch einen historischen Überblick bieten.
Dem Katalog hätte eine andere Reihenfolge besser getan. Erst der erklärende Text, dann die Beispiele samt assoziativer Gedanken. Denn so fehlen erst einmal der rote Faden und die Storyline und damit auch der Aha-Moment – all das würde einen eher in den kurzen Texten halten, die man so geneigt ist, zu überfliegen und zu überblättern. Es gibt das und das und das. Und dann gibt es auch noch das. Es gibt viel cuteness, aber dahinter verbirgt sich etwas, soll gezeigt werden.
Das Foto eines dicken Feldhamsters im Lauf von Julian Rad ist nicht einfach nur ein Foto eines dicken Feldhamsters. Die Jury des ersten Comedy Wildlife Photography Awards hatte übrigens diese Aufnahme des Wiener Naturfotografen auf Platz 1 im Jahr 2015 gewählt. Im Text zum Foto steht: "Hier zeigt sich das mitunter aggressive Moment der Cutifizierung, das immer auch eine Einverleibung und Unterwerfung des Anderen bedeutet, wie die Literaturwissenschaftlerin Sianne Ngai argumentiert. Was wir sehen, das ist ein süßes Kuscheltier und kein Feldhamster (…) mehr."
Peinliche Kuscheltiere
Das Künstlerkollektiv Underlook fotografiert Tiere von unten, Katzen, Hunde, Pferde. Man sieht flauschiges Fell und zierliche Pfoten. "Embarrassing pets since 2016", lautet der Claim des Kollektivs zur Serie. Im Text wird erklärt, dass die Tiere dem voyeuristischen Blick der Fotograf*innen und Betrachter*innen ausgeliefert sind. Die empfindlichste Stelle der Tiere werde unfreiwillig offenbart, "die es sonst nur als Poste von Unterwürfigkeit, im Spiel, bei der Körperpflege oder als Zeichen von Vertrauen zur Schau stellt."
Embarrassing pets since forever on the Internet, würde als Claim auf vieles zutreffen, was Halter*innen mit ihren Haustieren für ein paar Likes und den Kommentar "cute" anstellen. Man muss nur an die vielen Tiktok-Haustier-Challenges denken, die ständig die Runde machen. Wie reagiert beispielsweise ein schlafender Hund, den man erschreckt? Der Witz soll sein: Schau Hund, so fühle ich mich, wenn Du mich einfach so weckst. "Got you!", wird sich der Hund da eher nicht denken.
Tiere werden, so Birgit Richard im Essay zum Thema "Animal Cuteness", als "animalische Stellvertretung zum Zwecke der eigenen Selbstdarstellungen in den Mittelpunkt gestellt". Die Tiere sollen uns belustigen und beglücken. Sehr bekannte Petfluencer machen das auch noch über den eigenen Tod hinaus. Bewusste Fehlzüchtungen wie die international berühmt gewordene Grumpy Cat leben nicht lange, werden aber natürlich nur so berühmt, weil es sich um eine Fehlzüchtung handelt. Das Quartettspiel "Petfluencer" in der Ausstellung erinnert daran, dass Tiere als besonders niedlich wahrgenommen werden, wenn sie hilflos, versehrt und schutzbedürftig wirken. Den erhobenen Zeigefinger soll man sich wahrscheinlich dazu denken.
Cuteness kann manipulativ eingesetzt werden
Bei smarten Robotern und smartem Spielzeug ist das Gegenteil der Fall. Die Akzeptanz von Avataren und humanoiden Robotern wird nicht größer, wenn sie dem Menschen so ähnlich wie möglich werden. Eine unzulängliche oder zu große Menschenähnlichkeit kann eine unheimliche Wirkung hervorrufen, die zu Ablehnung führt. Toys wie ein Tamagochi wiederum müssen cute sein, damit man sich um sie kümmern möchte. Merkmale von Cuteness sind laut Ngai „smallness, compactness, softness, simplicity, and pliancy“, die mit den Affekten „helplessness, pitifulness and even depondency“ verbunden sind.
Cuteness kann manipulativ eingesetzt werden. Wer in den sozialen Medien gefallen möchte, verwendet beispielsweise wie Heidi Klum und Ehemann Tom Kaulitz den Puppy-Filter.
Sind die beiden nicht niedlich mit den Hundeohren und der langen Zunge? Und wer niedlich ist, der sammelt erst einmal Sympathiepunkte. Die Neue Rechte arbeitet mit diesem sehr einfachen Denkmuster und setzt deshalb auf eine niedliche Ästhetik. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die Cartoonfigur Pepe the Frog, die sich die Neue Rechte angeeignet hat, um Hassbotschaften und Verschwörungstheorien zu streuen und salonfähig zu machen. Niklas von Reischach erläutert in seinem Essay "Das Putzige ist politisch", dass die Verwendung eines cuten ästhetischen Stilmittels als Versuch gewertet werden kann, Nähe zu bürgerlich-konservativen Teilen der Gesellschaft aufzubauen. Es soll der Eindruck erweckt werden, "man repräsentiere lediglich eine niedliche sowie rechtschaffene Bewegung, der man sich dadurch leichter verbunden fühlen kann". Cuteness ist Teil "einer Medienstrategie der Selbstverharmlosung", radikale Inhalte werden so bagatellisiert und verschleiert.
Die Publikation spannt einen weiten Bogen von Kunst über Popkultur bis zu Politik und Klimwandel. Das führt bei einer Publikation mit knapp 150 Seiten und zahlreichen Abbildungen unvermeidlich dazu, dass jedes Thema nur kurz angerissen werden kann. Wie gesagt, einen schönen Einstieg in das Thema cuteness bietet der Katalog. Wer sich für das Thema schon länger interessiert, kennt die einschlägigen Publikationen von Ngai (2012) und den Sammelband "The Aesthetics and Affects of Cuteness" (2017), findet aber hier vielleicht noch einige neue Beispiele.