Tod des Handschlags

Pfoten weg!

Händeschütteln war deutsche Staatsräson, dann kam Corona. Warum wir die infektiöse Kulturtechnik des Kräftemessens nach der Pandemie nicht reanimieren sollten

Der Handschlag gehört zur deutschen Leitkultur. Das behauptete zumindest 2017 der damalige Innenminister Thomas de Maizière in einem Gastbeitrag für die "Bild am Sonntag". Dort schrieb er mit strengväterlichem Blick in Richtung von Zugewanderten auf, was "wir" in Deutschland alles so tun. Unter Punkt eins von zehn steht der Satz "Wir geben uns zur Begrüßung die Hand". Tun wir jetzt nicht mehr. Denn spätestens seit der amtierende Innenminister Horst Seehofer Anfang März in der heraufziehenden Corona-Pandemie der etwas perplexen Kanzlerin Angela Merkel den Handschlag verweigerte, gilt der Hautkontakt bei der Begegnung als epidemiologisch bedenklich und vermeidenswert. So schnell ändert sich Leitkultur. (Unter Punkt eins steht Prä-Maskenpflicht übrigens auch: "'Ge­sicht zei­gen' – das ist Aus­druck un­se­res de­mo­kra­ti­schen Mit­ein­an­ders. [...] Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka". Aber das ist eine andere Geschichte.) 

Die Gefahr der Ansteckung mit der Lungenkrankheit Covid-19 hat die Kulturtechnik des Händeschüttelns ziemlich schnell und ziemlich geräuschlos beerdigt, genauso wie unhygienische Umarmungen und Wangenküsschen jenseits der engsten Bezugspersonen. "Wer seine Hand ausstreckt, bietet eine Biowaffe an", zitiert die "BBC" den Spezialisten für Infektionskrankheiten Gregory Poland von der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota. Einem Fußballprofi von Hertha BSC haben ein Handschlag und andere Verstöße gegen die Abstandsregeln sogar den Job gekostet. Wann und ob das Händegeben exhumiert und wiederbelebt wird, ist ungewiss. Und wäre das überhaupt erstrebenswert? 

Historisch gesehen ist das Ineinanderflechten von zwei Händen (lange nur unter Männern) ein jahrtausendealtes äußeres Zeichen für ein gleichberechtigtes Treffen. Man schließt ein Geschäft ab, versichert sich der physischen Präsenz des anderen und überprüft, ob er unbewaffnet ist. In gewisser Weise erinnert man sich auch an seine Sterblichkeit, man streift Handschuhe ab und offenbart sich als Fleisch und Blut. Während es in der Antike Abbildungen vom Handschlag zwischen Göttern und niedrigeren Wesen gibt, fasst Gott Adams Hand auf Michelangelos berühmten Fresko in der Sixtinischen Kapelle gerade nicht an. Im christlichen Glauben ist der Mensch eben kein Gott. Und Schöpfung läuft in diesem Fall ganz Corona-konform kontaktlos ab.

Halbminütige Klammerduelle als Machtkampf

Unter uns Erdenbürgern wird das Bild der gereichten Hand oft als Symbol von Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit genutzt: sei es als Erkennungszeichen der Freimaurer, Logo von Hilfsorganisationen oder standardgelbes Pfoten-Emoji. Bis vor sehr kurzem hatte sich die Begrüßungsgeste zumindest im Politikbetrieb und der globalisierten Wirtschaft fast überall durchgesetzt, auch wenn in vielen Ländern ansonsten andere Formen der Begegnung üblich sind.

Wie unter anderem die halbminütigen Klammerduelle zwischen dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem US-amerikanischen Staatsoberhaupt Donald Trump gezeigt haben, kann ein Händedruck besonders in der Politik ein Machtkampf sein. Telegenes Geschüttel bildete bisher stets den Auftakt zu Staatsbesuchen und wichtigen Gesprächen. Schätzungen zufolge gibt ein US-Präsident jedes Jahr um die 65.000 Menschen die Hand - eine Mischung als Volksnähe und Machtdemonstration. Staatschefs können sich noch so spinnefeind sein, eine Verweigerung des Handschlags vor Zeugen ist ein wirkmächtiger Affront, der Kontroversen auslöst und gut überlegt sein will: Zuletzt zu beobachten beim thüringischen Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke), der nach seiner Wahl die Gratulation seines Herausforderers Björn Höcke von der AfD ausschlug

Auch in der Kunst ist der Handschlag ein gern genutztes, weil nahezu global verständliches Motiv. In seinen berühmten Neon-Tableaus brach der US-Künstler Bruce Nauman verschiedene Gesten der menschlichen Interaktionen auf einfachste Formen aus Licht herunter. In seiner Serie hat das Händeschütteln formal ziemlich viel mit der Ohrfeige, dem gegenseitigen Augenausstechen und dem Sich-Bedrohen mit Messern und Pistolen zu tun. In jeder Interaktion schwingt bei Nauman ein Kräftemessen und das Potenzial zur Gewalt mit. Und auch wenn die Konfrontationen im Alltag meist nicht ganz so dramatisch sind, ein zu kurzes/langes/festes/lockeres/schwitziges/schlappes/heißes/kaltes Handumfassen kann den Eindruck von einem Menschen nachhaltig prägen. Händedruck ist sozialer Druck. Man kann viel falsch machen - und trotzdem kann niemand so einfach sagen, was eigentlich "das Richtige" sein soll.


Eine der berühmtesten Handverbindungen der jüngeren Kulturgeschichte ist sicher das Foto auf dem Cover des Pink-Floyd-Albums "Wish You Were Here" von 1975. Darauf inszenierte das Designkollektiv Hipgnosis eine surreale Begegnung zwischen zwei Doppelgängern im Anzug, die sich die Hände reichen. Eine trockene Business-Geste, die den Abschluss eines nicht näher beschriebenen Deals nahe legt. Nicht ganz so business as usual: Einer der Herren steht in Flammen. Das Händeschütteln steht hier für ein Festhalten an eingeübten Ritualen im absoluten Ausnahmezustand. Ein sprichwörtlichen Festklammern am Bekannten in der psychedelischen Pink-Floyd-Welt. 


Sollten wir also am Händeschütteln festhalten, das so tief in der Kultur vieler Nationen verankert ist? Der US-Virologe und Trump-Antagonist Anthony Fauci rät ab und hat empfohlen, dass wir uns am besten nie wieder die Hände geben sollten, um nicht nur Corona-Infektionen, sondern auch Grippe-Ansteckungen zu verhindern. Vielleicht wäre das gar nicht so schlimm, denn letztendlich ist das "schön Händchen geben", das schon Kleinkindern antrainiert wird, viel öfter eine verkrampft-hierarchische Dressur als eine tatsächlich gleichberechtige Annäherung. Und dass Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen den Handschlag jetzt bewusst als Akt des Protestes einsetzen, verleiht ihm eine Aggressivität, die nicht so recht zu den Solidaritätsbemühungen einer Gesellschaft passt, die auf Gefährdete besser aufpassen will.

Die virenärmeren Alternativen, die derzeit durch die Gesellschaften geistern (Verbeugen, Hand aufs Herz, Nicken, fist bump, Ellenbogen- oder Fuß-Check, Jazz-Hands) sind noch etwas unbeholfen. Bei genauerer Betrachtung aber auch nicht absurder als eine gegenseitige Handergreifung. Etikette ändert sich ständig, und auch "Leitkultur" ist Gewöhnungssache, kontextabhängig und verhandelbar. Vielleicht fällt uns eine viel schönere Art der Begrüßung ein, die wir uns noch nicht vorstellen können. Im Netz gibt es bereits den Vorschlag, sich kleine Plastik-Hände auf die Finger zu stecken und sich damit hautkontaktfrei abzuklatschen. Das ist so surreal, dass es Performance-artig funktionieren könnte. Der US-Künstler Josh Kline ließ für seine Serie "Creative Hands" von 2011 die Hände von befreundeten Künstlern als Silikon-Replik aus dem 3-D-Drucker fertigen. Richtig aufbewahrt ein durchaus praktisches uns virenfreies Accessoire.

Der Mensch braucht Berührung, sonst geht er ein. Aber diese Sehnsucht wird nicht vorwiegend durch pflichtschuldiges Händeschütteln mit Geschäftspartnerinnen gestillt. "You'll never find love in an open hand", singt die Band Two Door Cinema Club in ihrem Song "Handshake" von 2014. Lassen wir den Handschlag also schlafen. In der zeitgenössischen digitalaffinen Kunst ist die menschliche Hand sowieso schon ein Werkzeug unter vielen, das in einem komplexen Mensch-Maschine-Umfeld seine exklusive Verbindung zu Virtuosität und Genie eingebüßt hat. Authentizität und Nähe haben nicht mehr unbedingt etwas mit physischer Anwesenheit zu tun. Also können wir auch die mythischen Bedeutungsschichten vom Händeschütteln schälen und uns postpandemisch auf etwas Neues einlassen. Hand drauf.