TikTok-Trend #corecore

Postkapitalistische Melancholie

Der Kern des Kerns: Tik-Tok-Trend #corecore
Foto: via Knowyourmeme

Der Kern des Kerns: TikTok-Trend #corecore

Die Social-Media-Plattform TikTok lebt von Trends, die sich in Lichtgeschwindigkeit ablösen und zum Konsum anregen. Der Anti-Trend #corecore will dagegen gar nichts und hat viel mit Kunst zu tun. Werden wir jetzt alle Avantgardisten?

"Heutzutage tragen wir permanent HD-Kamerasysteme mit uns herum. Im Prinzip kann jede Person jederzeit einen Film drehen mit Mitteln, die zumindest technisch besser sind als für den frühen Kinofilm." Mit diesen aus dem Gedächtnisprotokoll des Autors zitierten Worten entließ Elisa Linseisen, damals noch Dozentin an der Ruhr-Universität Bochum, einen jungen Studenten mit dem Auftrag, einen eigenen Film zu drehen. Keine Vorgaben, kein Zielpublikum, kein Zwang, alles kann.

Etwa acht Jahre liegt diese Erinnerung in der Vergangenheit: kurz nach der Übernahme von Instagram durch Facebook, die App TikTok gab es noch nicht. #cottagecore, also die Idealisierung von "ursprünglichem" Landleben, hieß noch nicht #cottagecore, Wohnungen richtete man trotzdem gerne "hyggelig" ein. Es war die Renaissance von Sepia-Filtern, beigen Oversize-Pullovern und dem zumindest kurzweiligen Versprechen von "Entschleunigung". Zurück zum Kern der Sache, zurück zu dir selbst - ein Versprechen an das sich zumindest die Frühgeschichte der modernen Philosophie erinnert.

Zum Kern der Sache bewegt sich auch ein Trend der jüngeren TikTok-Geschichte. Unter dem Hashtag #corecore werfen Tausende Nutzerinnen und Nutzer der App neues Material in die Wischbewegung. Doch die Videos gehen in dem mitreißenden Fluss dieses Nutzungsverhaltens nicht klanglos unter, ganz im Gegenteil: Um #corecore entsteht derzeit ein Hype, der mit dem Trend mehr als eine flüchtige Mitmachkampagne verspricht. Aber einen Schritt zurück: Worum geht's überhaupt?

Wir verkaufen nichts
 
Videos, die mit #corecore weitreichende Beachtung auf TikTok erfahren - Tausende Uploads mit jeweils Hunderttausenden, teilweise Millionen Likes - wirken auf den ersten Blick wie eine Fortsetzung der immergleichen Kompilationen auf der Plattform. Doch es gibt eine Auffälligkeit: Die Videos wollen nichts "verkaufen". Mehr und mehr bewegt sich TikTok auf die Vermarktung von irgendwas oder irgendwem zu. Markenidentitäten, ob an Persönlichkeiten, Produkte oder Unternehmen gekoppelt, stehen im Vordergrund. Selbst One-Hit-Wonder-Accounts, die durch ein einzelnes Video viral gehen, bauen auf diese Glücksgriffe, um ihr Content-Konzept einem Genre zuzuordnen, das dann durch Hashtags bestärkt und an ein Zielpublikum ausgespielt wird: #comedy #mindset #richdadpoordad.

Die jüngste Generation, die sogenannte Gen Z, macht jedoch zunehmend deutlich, dass Verkaufsabsichten, wie subtil oder "schlau" verpackt sie auch sein mögen, abstoßend wirken. Zumal das Ziel und der Ausgang immer dieselben sind: kaufen, konsumieren und wieder kaufen. Unter #corecore wird nichts verkauft. Die Accounts, die die Videos hochladen, wiederholen nichts, sondern kommunizieren in melancholischen Video-Essays, die zuweilen auch an die Medienkunst der vergangenen Jahre denken lässt. Es sind Zusammenstellungen von vermeintlich zusammenhanglosem found footage: Momente aus bekannten Serien wie "Prince of Bel Air", Interviewausschnitte mit Intellektuellen, Kurzsequenzen aus Live-Streams oder historische Momente. Die Ingredienzien können von überall kommen; kombiniert lassen sie das Publikum zurück mit einer Frage. Mit der Frage danach, was das alles hier eigentlich soll.

Die Suche nach der Wahrheit ist ein der Moderne immanenter Aufklärungswunsch; die Modernisten gingen aus von der Existenz des Dualismus "richtig/falsch". Wahrheit, so die Theorien, solle durch Kohärenz und Korrespondenz validierbar sein. Mit Automatisierung, fortschreitender Industrialisierung und damit einhergehender Entwertung menschlicher Arbeit ist der Nährboden für die Geburtsstunde von Medienkunst und Experimentalfilm gedüngt worden: Persönlichkeiten wie Marcel Duchamp, Man Ray, Mary Ellen Bute und später Nam June Paik gingen aus dieser Entwicklung hervor. Eine kultur- und kunsthistorisch nachvollziehbare Gegenreaktion zur Mechanisierung der Welt. 

 

Heute stehen dem die in Lichtgeschwindigkeit aufeinander folgenden Trends auf TikTok gegenüber. Die Gegenwart ist keine Suche nach Wahrheit, keine Trennung von richtig oder falsch. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Nachkriegszeit und vor allem der Zweite Weltkrieg selbst, haben gezeigt: Jedem Richtigen wohnt ein Falsches inne, so wie jedem Falschen auch ein Richtiges innewohnt. Wahrheit ist, wie Geschlecht und Identität, konstruiert. Nur wie sieht die Gegenreaktion hierzu aus? 

Die Antwort leitet sich von der zugrundeliegenden gesellschaftlichen Lage ab, die zugleich Ähnlichkeiten aber auch substantielle Unterschiede zur Moderne aufweist, sowie von der konkreten Mediennutzung. Unter anderem der Dramaturg Carl Hegemann formulierte vor etwa zehn Jahren die Beobachtung, wir würden in einer visuellen Kultur leben - dieselbe visuelle Kultur haben sich zu Beginn des 20. Jahrhundert der "American Dream", später das Weltwirtschaftswunder und in der Nachkriegszeit die gesamte Werbeindustrie zu Eigen gemacht.

Bilder vermitteln am besten und intensivsten das Versprechen eines Lebensgefühls, das zur Maxime von Glück avancierte. Soziale Medien haben diese Entwicklung potenziert: Plötzlich hatten alle jederzeit die Möglichkeit, visuelle Eindrücke von ihrem aalglatten und lückenlosen Glück in das virtuelle "Commonplace" zu projizieren: Foodporn, Selfies, Reaction-Videos und Tutorials (zu wirklich allem) fluteten Video- und Bildplattformen. 

Der nächste Trend ist kein Trend

Auf diese Weise wurden exklusive Expertinnen-Gruppen gebildet - in jede "Blase" konnte und kann man tiefer und tiefer hineintauchen, bis die Nachvollziehbarkeit verloren geht. Die davon abgeleiteten "Meta-Memes" sind nicht verständlich für Menschen, die nicht in den dazugehörigen "Bubbles" stecken. Und das wollen diese auch nicht sein.

Die Hypergeschwindigkeit von Trends und wieder neuen Trends, beziehungsweise Trends, die auf vorherigen Trends aufbauen, hat ein Ausmaß angenommen, das Emily Segal und die Agentur K-Hole in den 2010er-Jahren dazu veranlasste, den Begriff Normcore zu prägen. Ein Nicht-Trend, der jedoch als Abkehr vom Trendgeschehen einen vermarktbaren und zuletzt auch monetarisierbaren Gegenentwurf anbot: Der nächste Trend ist kein Trend, und hier ist die dazugehörige Modekollektion, die wie keine andere "Normalos" repräsentiert. 

Aber was ist -core? Der Suffix beschreibt eine inkonkrete Steigerung, "die Vorstellung der Intensivierung einer bestimmten Sache", wie es Elisa Linseisen im Gespräch mit Monopol beschreibt. Metal Core und Hardcore waren musikalische Übersteigerungen der zugrundeliegenden Genre, seit Normcore findet das Prinzip des -cores in allen denkbaren Gefilden Einzug, beschreibt zumeist einen Modestil oder eine Ästhetik: Techcore, Grannycore, Gorpcore, Emocore. Der Kern der Sache eben. 

Nun kommt die Intensivierung der Intensivierung

Und nun kommt #corecore. Der Kern des Kerns, wörtlich übersetzt. Während Normcore noch die Intensivierung der Negation verkörperte, ist #corecore die Intensivierung der Intensivierung. Nur wieder neuer Meta-Meme-Quatsch? Ganz im Gegenteil. 

#corecore ist zutiefst avantgardistisch. Nicht nur ist die Rückbesinnung auf den Kern des Kernbewusstseins selbst verwandt mit der Idee der Phänomenologie, ist es vor allem der politische Avantgardismus, der im #corecore-Trend schlummert. Die Abkehr von der Core/Nicht-Core-Unterscheidung als Inhalt - the medium is the message.

Ein paar Jahre, nachdem Marshall McLuhan diese Phrase formulierte, entstand 1982 einer der wichtigsten Filme der Nachkriegsmoderne: "Koyanisqaatsi" von Godfrey Reggio, der erste der drei "Qatsi"-Filme. Das Werk ist eine audiovisuelle Hommage an die Dialektik von Mensch und Natur, Ratio und Emotion, die Zivilisierung und Bevölkerung des Planeten Erde, den Transformationsprozess. Sequenzen wie man sie heute in filmischen Arbeiten von Julian Charrière oder Patrick Alan Banfield wiederfindet. Die Fotografie von Andreas Gursky wirkt wie eine visuelle Auskopplung desselben Filmes, die Arbeit von Bernd und Hilla Becher wie ein geistesverwandtes Rhythmisieren und Ästhetisieren von mechanischen Prothesen menschlicher Arbeit. Donna Haraway dürfte Fan sein.  

Kristallbilder für die Gegenwart

Mit #corecore schließt sich der Kreis visueller Hommagen an die Ästhetik des Kapitalismus bezeichnenderweise auf einer Plattform, deren Bedien- und Wirkungsweisen aus dem Gestus derselben abgeleitet wurden. Es existiert eine Korrelation zwischen den gesellschaftlichen Veränderungen und Medienkunstentwürfen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die dem Film "Koyanisqaatsi" zuvorkamen sowie dem neuen Nutzungsverhalten zeitgenössischer Medien. Korrelation in dem Sinne, dass die erprobten Schnitt- und Montagepraktiken in die gegenwärtigen Nutzungs- und Produktionsgewohnheiten auf Plattformen wie TikTok Einzug finden.

Den #corecore-Videos lässt sich natürlich vorwerfen, ihnen liege eine "stärkere Arbitrarität" zugrunde, der Schnitt sei assoziativer. Linseisen ergänzt: "Deleuze würde es wahrscheinlich ein Kristallbild nennen." Brüche, die nicht unbedingt klar sind. Diese Montagetechnik lässt sich gut einordnen: die sowjetischen Avantgardisten bedienten sich genau diesem Mittel besonders inflationär. Und was ist die Absicht? Was wollen die #corecore-Videos auslösen, was ist ihr Ziel?

"Das ist im Avantgardismus letzten Endes ein politisches. Es geht darum, die Fragen der Gegenwart abzubilden." Und das ist bei #corecore nicht anders. Die Videos sind zutiefst kapitalismuskritisch. Linseisen regt an, "#corecore als Widerständigkeit zu dem zu sehen, was TikTok eigentlich vom Individuum will. Eine Okkupation von hyperkapitalistischer Plattformlogik." Es ist immer die Frage: Wie kann man widerständig sein, obwohl man mitmacht? Vielleicht ist das die Antwort: Über #corecore.

Alles ist (k)eins

Der Trend macht sich die Infrastrukturen der Wertschöpfung zueigen. Seit Norm- oder Cottagecore ist Zeit vergangen, das Versprechen der endlosen Wertschöpfung, des endlosen Wachtsums kommt ins Straucheln. Fynn Kliemann, Elon Musk, Frank Thelen - alle verlieren nach und nach ihre Glaubwürdigkeit. Wo sind sie denn, die versprochenen Früchte des Kapitalismus? Elisa Linseisen bringt es auf den Punkt: "Wir tun zwar so, aber es funktioniert halt nicht." Und ebendas ist der Kern von #corecore. Der Kernkern sozusagen. 

Originär ist der Content nicht; es sind Zitate, Referenzen, Collagen. Mittel, derer sich die Dadaisten in der ersten Hälfte, die Fluxisten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedient haben. Die Auswahl und Zusammensetzung der Zitate ist selbst das Originäre, das "Essayistische", wie Linseisen unter Bezugnahme auf Hito Steyerl hinzufügt. Während sich die Meta-Meme-Kompilationen an exklusive Expertinnen und Experten richten, geht es bei #corecore um das Gegenteil. "Die Videos wollen in ihrer Komplexität, das man anhält. Hier steht die Öffnung im Vordergrund, das Innehalten." Ähnlich wie einst Cottagecore folgen #corecore-Videos einer Entschleunigungslogik, die auf der Rezeptionsebene stattfindet. Das lässt sich auch am Soundtrack nachvollziehen. "Bisschen doom, bisschen depressive". Postkapitalistische Melancholie eben. 

Es ist die logische Konsequenz, dass wir letztendlich hier angekommen sind. #corecore ist das Endergebnis von -core Trends und einer allgemeinen Hybridisierung kapitalisierter Avantgarde: Kunstausstellungen gehen Kooperationen mit Modemarken ein, die im Shop verkauft werden; Louis Vuitton stellt einen Yayoi-Kusama-Roboter in ein Schaufenster, der für alle Ewigkeit Punkte malt; bei Fashion-Shows spielt Musik von Ufo361 im Hintergrund, während Kanye West durch Schlamm läuft. Sprachkultur meets Hybridisierung. Alles ist (k)eins.