B-Movie-Heldinnen, Horrorclowns, Madonnen aus der Renaissance oder stinkreiche Kunstsammlerinnen: Es sind unzählige Rollen, in die Cindy Sherman in mehr als 40 Jahren Karriere geschlüpft ist. Mithilfe dicker Schminke, Prothesen, Perücken, Kostümen und neuerdings auch digitalen Tools hat sie sich auf erstaunliche Weise immer wieder in groteske, aber auch unscheinbar-blässliche Figuren verwandelt. Mit ihrer Selbst-Inszenierungskunst, inklusive dem verblüffenden Talent, die Mimik auf bestimmte Typen und Ausdrucksmomente gleichsam einzustellen, hat die am 19. Januar 1954 im US-Bundesstaat New Jersey geborene Cynthia Morris Sherman Kunstgeschichte geschrieben.
Sie selbst hat die frühe Begeisterung für Maskeraden damit erklärt, dass sie als jüngstes von fünf Kindern – einer Lehrerin und eines Ingenieurs mit einer großen Sammlung von Fotoapparaten – stets die Aufmerksamkeit der anderen Familienmitglieder auf sich ziehen wollte. Ihre erste Kamera, eine Kodak Brownie Box Camera aus Plastik, bekam sie als Zehnjährige vom Vater geschenkt. Doch es waren weniger die Apparate, sondern die Fotografien, die sie faszinierten.
Im Grundschulalter liebte sie es, Alben mit Familienfotos zusammenzustellen. Das erste nannte sie "A Cindy Book", bei dem sie auf jedem Bild einen Kringel um sich selbst malte. Wenn sie zuhause in Fotokartons stöberte, so hat Sherman erzählt, "fragte ich meine Mutter immer: 'Welches davon bin ich?'. Es war wohl interessant für mich, mich selbst aus einer Gruppe von Leuten herauszusuchen."
"Es geht darum, mich verschwinden zu lassen"
Cindy Sherman, die Narzisstin? Ein klarer Fall von Zwang, im Rampenlicht zu stehen? Nein, die Sache ist komplizierter. Die Künstlerin hat betont, dass sie im Gegenteil eher versuche "mich auszulöschen, als mich zu identifizieren oder mich zu zeigen. Das ist ein großes, verwirrendes Problem, das die Leute mit meiner Arbeit haben: Sie denken, dass ich geheime Fantasien oder sowas enthüllen möchte. In Wahrheit geht es darum, mich selbst in diesen Figuren verschwinden zu lassen."
Ab 1972 studierte Sherman am Art Departement der State University of New York in Buffalo, versuchte sich an Malerei, Zeichnung und Skulptur, konzentrierte sich aber bald auf die Fotografie. Im zugehörigen Seminar sei sie allerdings durchgefallen, war im vergangenen Mai in der "Zeit" zu lesen. "Es sollten die richtigen Belichtungszeiten eingehalten werden, alle Graustufen abgebildet sein. Es war mir einfach zu technisch", berichtete die Künstlerin im Interview.
Eine neue Fotoprofessorin machte sie dann mit der Konzeptkunst bekannt. Es war diese Verbindung zwischen diesem Ansatz und dem Medium, dank derer sich die Fotografie endgültig als Kunstpraxis durchsetzen würde. Und Cindy Sherman war ganz vorn dabei. Heute zählt sie zu den zentralen Figuren der "Picture Generation", ein Begriff, der gut drei Jahrzehnte nach Douglas Crimps New Yorker "Pictures"-Ausstellung von 1977 mit Werken von Troy Brauntuch, Jack Goldstein, Sherrie Levine, Robert Longo und Philip Smith geprägt wurde. Es waren Kunstschaffende – Louise Lawler, Barbara Kruger und Richard Prince müssen auch genannt werden –, die mit Massenmedien aufgewachsen waren und die eine strategische Aneignung vorhandener Werke ins Zentrum ihrer Praxis stellten.
"Das ist sowas von unwahr"
Shermans erster großer Wurf waren die "Untitled Film Stills" (1977-80), an denen sie nach ihrem Umzug nach Manhattan zu arbeiten begann. Die Aufnahmen, in denen die Künstlerin in verschiedenen Verkleidungen auftrat, als frustrierte Verführerin, als desperate housewife, sitzengelassene Geliebte oder die "Unschuld vom Lande", die voller Karrierehoffnungen in New York aufschlägt, bezogen sich auf B-Movies der 1940er- bis 50er-Jahre, ohne direkt bestimmte Filme zu zitieren. In Formatgröße und Stil erinnerten die Schwarzweiß-Abzüge tatsächlich an Aushangfotos (film stills) der Kinowerbung.
Anhand der bis heute zu ihren bekanntesten Werken zählenden Serie von 69 durchnummerierten Fotografien wurden bald Fragen von Postmoderne, Feminismus und Repräsentation diskutiert. Die Künstlerin hat sich kaum um den theoretischen Diskurs um ihre Kunst geschert. "Es gibt so viel, das ich nie gelesen habe. Und einiges, das ich zu lesen versucht und überhaupt nicht verstanden habe", gab sie vor vier Jahren im "Apollo Art Magazine" zu Protokoll. Als "skurril" hat sie ihr Alter ego in Bertrand Bonellos Kurzfilm "Cindy: The Doll is Mine" von 2015 bezeichnet. Eine Schauspielerin mimt darin die angestrengte Künstlerin im Atelier, ein Ort der Selbstzweifel und Qual. "Ich dachte: Wow, das ist so was von unwahr", erzählte Sherman, "Ich habe Spaß bei der Arbeit, auch wenn ich mich mit düsteren Themen beschäftige".
Anders als bei den "Untitled Film Stills" sind bei Shermans "History Portraits" (1988-1990) die Vorlagen überwiegend identifizierbar. Sie schminkte sich einen schwellenden Bizeps auf den Oberarm, legte Plastik-Weinlaub um den Kopf, um zu Caravaggios "Bacchus" zu werden, legte sich für Frauenporträts nach Frans Hals oder Rubens Gummibusen an und dickes Theater-Makeup auf. Es waren vor allem Frauenfiguren aus der Kunstgeschichte, die Sherman hier aufgriff, Frauen, die in der historischen Realität Modelle, aber kaum Künstlerinnen sein durften. Unter deren Konterfeis schimmert die erfolgreiche, innovative Künstlerin des späten 20. Jahrhunderts durch: Cindy Sherman.
Ihre Regiearbeit war nicht von Erfolg gekrönt
Mitunter verschwand sie aber auch wirklich und gänzlich aus den Bildern, etwa in den "Disasters" (1985-1989) und den Schaufensterpuppen-Pornos der "Sex Pictures" (oder "Mannequin Pictures", 1992). Für die "Disaster"-Serie arrangierte die Künstlerin Körperteil-Prothesen, verschimmelte Nahrungsmittel, Abfall und Erde zu abjekten Studien des Verfalls – in Schockfarben.
Ekel, Horror und Witz flossen auch in ihren einzigen Spielfilm "Office Killer" von 1992 ein, eine Splatterfarce mit Starbesetzung (Molly Ringwald, Barbara Sukowa), in dem es buchstäblich um Leichen im Keller geht. Ihre Regiearbeit war nicht von Erfolg gekrönt, und Sherman wandte sich wieder ganz der Fotokunst zu.
Zu den Konstanten in ihrem Schaffen zählt die Auseinandersetzung mit Mode. Es gab kommerzielle Aufträge, von Chanel, von Designerinnen wie Stella McCartney, Sherman hat für Magazine von Harper’s Bazaar bis Vogue gearbeitet. Aber auch in diesem Kontext hat Sherman die Konventionen immer wieder unterlaufen, hat den Bildern und Figuren jeden Glamour ausgetrieben. Gerade nach kreativen Pausen seien die Aufträge aber motivierend für sie, hat Sherman gesagt: "Die Kollaborationen sind für mich eine Möglichkeit, das Gefühl zu haben, dass ich mich wieder an die Arbeit machen kann".
Ein Gegenbild zur makellosen Welt der Mode
Die neue, seit 2023 durch Europa tourende Sherman-Schau "Anti-Fashion" ist zurzeit und noch bis 3. März in der Hamburg-Harburger Sammlung Falckenberg zu sehen. Die aus fünf Dekaden ausgewählten Werke zeigen, wie die Künstlerin ein Gegenbild zur eleganten, makellosen Welt der Mode entworfen hat. Und immer wieder verblüfft das riesige Spektrum an Charakteren und Typen – gegenüber einer normierenden Schönheits- und Modeindustrie – mit dem Sherman Identität als fluide, formbar, fragwürdig inszeniert.
Wer ist diese Spielerin hinter den 1000 Gesichtern denn? Da gibt sie sich bedeckt. Interviews mit Sherman sind selten, und nur auf Fragen der Kunstproduktion gibt sie ausführliche Informationen. Und ihre Geheimnisse? Ihre privatesten Fantasien? Die Black Box bleibt zu. Wir wissen nicht viel von der wahren Cindy Sherman. Wozu auch. Sicher ist, dass die große Verwandlungskünstlerin nun 70 Jahre wird. Wir wünschen ihr alles Gute – und uns noch viele Sherman-Metamorphosen!