Wie beurteilen Sie die Entscheidung der "New York Times", keine politischen Karikaturen mehr zu veröffentlichen?
Ich bin hin- und hergerissen. Persönlich habe ich bereits vor langer Zeit aufgehört, Karikaturen zu machen. Man muss zunächst differenzieren: Was ist ein Cartoon, was ist eine Karikatur? Letztere ist ein Statement über eine bestimmte Person. Die Zeichnung soll diesen Menschen erkennbar machen, und das heißt prinzipiell: überzeichnen, ihn hässlicher machen, als er ist. Ich habe für mich entschieden, dass ich diese Art Arbeit nicht machen möchte. Denn sie läuft gegen meine Philosophie, dass ich mich über die Idee oder Handlungen von Menschen äußern möchte, aber nicht über ihre Physiognomie. Ganz ehrlich: Ich weiß auch nicht, wann ich die letzte Karikatur gesehen hab, die ich echt gut fand. Die Schwäche des Mediums ist, dass wir meist nur die Bilder gut finden, die unsere Meinung bestätigen und auf den Leuten rumhacken, die wir ohnehin schon blöd finden.
Aber hat diese Entscheidung nicht auch eine symbolische, eine politische Dimension? Chapatte, ein langjähriger Karikaturist der "New York Times", kritisierte jetzt, dass "moralistische Mobs" auf Social Media den Skandal erst angeheizt hätten.
Absolut. Die Grenzen des Erlaubten regelt einerseits das Recht: Was ist Verleumdung, was ist Privatsphäre und so weiter. Aber es gibt mittlerweile auch eine Gerichtsbarkeit im Internet, und ich denke, darin liegt auch der Grund, warum die "New York Times" die Karikaturen eingestellt hat. Diese Gerichtsbarkeit läuft über Lautstärke, und auch wenn sie keine juristischen Grundlagen hat, kann sie harte Urteile verhängen. Wenn das Internet sagt "Das war schlimm" dann geht dieses Urteil über die umstrittene Aktion auch auf den Menschen oder die Institution dahinter über. Wenn ich im echten Leben gegen das Gesetz verstosse, bekomme ich Bußgeld oder eine Freiheitsstrafe. Damit ist das Vergehen meist abgegolten. Aber das Internet arbeitet mit Shaming und stellt den Angeklagten nachhaltig an den Pranger, es kennt nur selten Vergebung. Sicher fragt sich manche/r ZeichnerIn: Verkneife ich mir eine Äußerung aus Angst vor einem Shitstorm?
Sie fürchten Selbstzensur?
Ja. Im Fall der Netanjahu-Karikatur muss ich mit dem Wissen um den Holocaust und der Geschichte antisemitischer Karikaturen im Hinterkopf, natürlich sagen: Das ist nicht zu verteidigen. Aber wenn ich überlege, was die Empörungsspiralen im Internet für die Bildkultur insgesamt bedeutet werde ich unsicher.
Sie haben lange in den USA gelebt, ihre Zeichnungen sind auf dem Cover des "New Yorker" oder des "New York Times Magazine" erschienen. Wie haben sich das politische und das publizistische Klima dort in den vergangenen Jahren entwickelt?
Das Land ist wesentlich gespaltener. Und der Diskurs hat sich professionalisiert. Wenn ich jetzt in der "New York Times" irgendetwas machen würde, egal ob ich nach rechts oder nach links schieße, wird das nicht zufällig irgendeinen Nerv treffen. Manche Leute warten ganz präzise auf solche Momente, um sie zu skandalisieren. Das hat auch wieder mit Social Media zu tun. Trete ich wegen eines unliebsamen Cartoons einen Shitstorm los, dann bringt mir das was: Likes, Follower, Aufmerksamkeit. Das ist ein konkreter Anreiz. Und diese Aufmerksamkeitsökonomie bildet die Geschäftsgrundlage für Twitter und Facebook.
Die ersten Karikaturen wurden in englischen und französischen Zeitungen des frühen 19. Jahrhunderts abgedruckt. Sie sind ein journalistisches Instrument, das eng mit Demokratie und Meinungsfreiheit verbunden ist. Sollten die heutigen Medien wirklich darauf verzichten?
Wie bei allen Themen heute, sei es Sexismus oder Rassismus, muss man die Frage der Bildkultur vor dem Kontext der Machtverhältnisse betrachten. Früher hatte der Adel gottgegebene Macht. Herrschende waren weder physisch noch finanziell angreifbar. Die Zeichnung war ein brillantes neues Mittel dieser Macht etwas entgegenzusetzen. Gegen einen Despoten oder einen absolutistischen Herrscher ist die Karikatur ein kleiner aber spitzer Pfeil. Sie ist gut, solange es gegen Mächtigere geht, aber nicht, wenn sie auf Schwache einschlägt.
Benjamin Netanjahu ist nicht schwach.
Das stimmt, aber er ist eben der Ministerpräsident Israels, und das Judentum ist einem erstarkenden Antisemitismus auf der ganzen Welt ausgesetzt. Ist Annegret Kramp-Karrenbauer "schwach"? Als CDU-Vorsitzende: nein. Als Frau in der Politik: ein wenig? Als Figur im Internet: ganz bestimmt!
Aber macht das nicht das Wesen der Satire aus: dass sie – anders als ein Text – unfair ist und überzeichnet? Und keine Rücksicht nimmt auf Geschlecht oder Religion?
Religion ist ein interessanter Aspekt. Nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" wurde gesagt: Natürlich haben wir das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung – aber müssen wir etwas unbedingt machen, nur weil wir das Recht dazu habe? Wie weit müssen wir gehen um religiöse Gefühle nicht zu verletzen? Soll sich ein homosexuelles Paar einen Kuss verkneifen wenn ein Priester vorbeiläuft? Soll die Kollegin beim Meeting mit dem Kunden aus der erzkonservativen Kultur lieber nicht dabei sein? Wenn wir ein Recht haben, aber es aus Rücksicht nicht ausüben dürfen, dann haben wir das Recht offensichtlich nicht wirklich. Vielleicht ist es wichtig, ein Recht regelmässig wahrzunehmen, nur um zu dokumentieren: Wir haben das Recht noch. Ich sehe ein Gefahr darin, dass die permanente Angst jemanden zu verletzen, irgendwann auch unser Denken einschränkt. Das ist für mich der Kern der ganzen Debatte: Inwiefern fangen wir an, anders zu denken? Verkneife ich mir schon die Kritzelei auf meinem Schreibtisch – weil jemand sie sehen und das unangenehme Folgen für mich haben könnte?
Glauben Sie, dass die Karikatur nach der Entscheidung der "New York Times" überhaupt noch eine Zukunft hat?
Momentan kann ich es mir nur schwer vorstellen. Das Risiko für ein Medium ist einfach zu hoch. Auf der anderen Seite sind etwa in China Bildkarikaturen wichtig, weil man mit ihnen die Zensur umgehen kann. Sollten Karikaturen tatsächlich verschwinden, hätte das Konsequenzen, die wir noch gar nicht absehen können. Deshalb wird mir bei der Entscheidung sehr mulmig. Auch wenn ich Shitstorms oft nachvollziehen kann: Wir müssen immer schauen, was da sonst noch weggeweht wird.