Christian Thoelke, wir sind der gleiche Jahrgang, 1973. Und wie Sie bin ich mein Leben lang Hauptstädter gewesen. Ich komme aus Bonn, Sie aus Ostberlin. Wir waren 16, als die Mauer fiel. Ich war damals Austauschschüler in den USA und habe das ganze Wochenende CNN geguckt. Ich hatte bereits was gegen Nationalismus. Und war dennoch emotional total bewegt von der Freude der Menschen und dieser hohen Gerechtigkeit, die sich ereignete. Sie waren wahrscheinlich hier in Berlin. Wie haben Sie die Wende erlebt?
Ja, ich war tatsächlich in der Nacht des 9. Novembers mit meinen Eltern in West-Berlin. Das war natürlich der totale Flash. Unvorstellbar, dass die Mauer dann doch so schnell gefallen ist. Aber ich habe eigentlich nur noch bruchstückhafte Erinnerungen an diese Nacht. Vielmehr erinnere ich mich an die Monate davor, weil diese politischen Veränderungen parallel zu unserem Erwachsenwerden gelaufen sind.
Inwiefern?
Als junger Mensch, mit 15, 16, gehst du das erste Mal lange aus, und das ist bei uns voll in diese Wendezeit '89 gefallen, beginnend mit den Demonstrationen im Oktober und November. Vor allem die große Demonstration mit 400.000 Menschen auf dem Alexanderplatz am 4. November war natürlich eine überwältigende Erfahrung. Aber es ging schon mit den Ereignissen am 7. Oktober los, als es diese Festnahmen und Übergriffe am Rande der Feier zum 40. Jahrestag der DDR gegeben hat. Hier wurde es zum ersten Mal für uns existenziell, da damit auch massive Gewalterfahrung durch den Staat verbunden war. Das kannten wir nicht. Freunde von mir wurden einfach einkassiert, und die sind dann auch über Nacht weggeblieben. Das war krass. Dass man dann schon so kurz danach am 9. November den Mauerfall live miterlebt hat und dann auch als Berliner ziemlich bald regelmäßig drüben war, war schon eine sehr besondere Erfahrung, die extrem geprägt hat.
Man hat im August und auch noch nicht im Oktober '89 - weder im Osten noch im Westen - geahnt, dass der Staat so plötzlich kollabieren würde. Und währenddessen hing über Ihnen immer auch diese Angst, dass es wie zuvor in Peking am Platz des Himmlischen Friedens ausgehen könnte. Dass der sozialistische Staat nämlich den Protest niederschießt. Diese besondere Erfahrung, dass es auf einmal so schnell ging, ist eine genuin ostdeutsche: So ein Staat kann ganz schnell kollabieren. Ein System kann sich ändern.
Auf jeden Fall. Es gibt keine Gewissheiten. Tian’anmen war sicher eine Zäsur. Das war im Juni '89, zu einer Zeit, als ich im Wehrlager war. Man musste in der 9. Klasse für drei Wochen so eine Art vormilitärische Ausbildung machen. Diese Zeit war für uns total surreal, da die Ereignisse in China fast gleichzeitig liefen. Du hast das natürlich mitgekriegt und warst da zugleich kaserniert. Das war beängstigend, weil du dort hautnah gesehen hast, dass es auch in diese Richtung gehen kann. Aber die von Ihnen erwähnte Erfahrung, was es wirklich bedeutet, wenn ein Staat von jetzt auf gleich aufhört zu existieren, haben wir erst nach der Wende gemacht. Also in den Monaten und Jahren unmittelbar danach, als die Leute massenweise arbeitslos wurden und Betriebe dichtmachen mussten. Ein wahnsinniger Transformationsprozess in sehr kurzer Zeit.
Der Sie als 16-Jährigen aber nur indirekt getroffen hat.
Ja, aber unsere Eltern, die Familien, die Eltern von Freunden. Überall, wo du hingeguckt hast, war das trotz aller neu gewonnenen Freiheiten präsent. Allein zwischen 1989 und 1991 haben fast drei Millionen Menschen im Osten ihre Jobs verloren. Auch in meinem Freundeskreis gibt es viele, deren Eltern nie wieder richtig in Arbeit gekommen sind und die darüber auch kaputtgegangen sind. Das waren keine SED-Bonzen, sondern ganz normale, gut ausgebildete Leute, zum Teil Akademiker, für die es aber auf einmal einfach keine Verwendung mehr gab. Für die war das natürlich verheerend, Arbeit ist auch identitätsstiftend. Und das sind Leute gewesen, die damals erst um die 40 Jahre alt waren.
Sie als Jüngere waren damals im Wehrlager und in der Schule mit Autoritäten konfrontiert, die Ihnen gestern noch erzählt haben: "Wir bauen den Frieden, wir bauen den neuen Menschen, die gerechte Gesellschaft, den Sozialismus", die Ihnen eben noch die Westklamotten weggenommen und die Aldi-Tüten zerrissen haben. Jetzt stehen die auf einmal auch bei Aldi. Für viele Leute, die genauso alt sind wie wir, markiert das eine Zeit der Orientierungslosigkeit. In der die Elterngeneration als Vorbild plötzlich wegfällt, nichts mehr zu sagen hat und die eigene Generation dadurch total lost ist.
Das stimmt. Zum einen war das natürlich ein totaler Moment der Freiheit, weil du nun dein Ding unterm Radar gemacht hast. Der repressive Staat war weg, und unsere Eltern hatten mit sich genug zu tun. Aber welche Auswirkungen das hatte, hängt eben auch ganz stark damit zusammen, in welchem Umfeld du warst. In einer Stadt wie Berlin ist es sicherlich einfacher gewesen, weil wir nicht unter dem Eindruck dieser krassen Abwanderung gelebt haben, die woanders ziemlich schnell eingesetzt hat. Man kann das ganz gut in den Filmen des leider im letzten Jahr verstorbenen Thomas Heise beobachten. Zum Beispiel in den "Stau"-Filmen, also der Halle-Trilogie, wo irgendwelche Kids sich mehr oder weniger selbst überlassen in den Plattenbauten sitzen und frei drehen. Das hat es in Berlin auch gegeben, aber nicht in dieser Dimension, weil du hier natürlich mehr Freizeit- und Kulturangebote hattest als in der ostdeutschen Provinz.
In einem Artikel der "Berliner Zeitung" stand, für den Maler Christian Thoelke war das Ende der DDR eine Befreiung. Dieser Zuschreibung wollen Sie vermutlich auch entkommen. Denn niemand möchte immer auf dieses eine Event oder auf seine ethnische oder regionale Identität reduziert werden. Und dennoch arbeiten Sie damit in Ihren Bildern, schon allein durch die Wahl der Motive. Ein zugenagelter Supermarkt, die Bretter mit Graffiti bedeckt. Beim ersten Sehen dachte ich, ich kenne den Supermarkt, der ist in Mitte, Teutoburger Platz. Vielleicht war er woanders, egal, weil die Bauten immer gleich aussehen und überall im Osten stehen könnten. Auch wenn keine Menschen im Bild sind, passt das Motiv perfekt zu den Leuten, die ihre Jobs verloren haben. Die haben ihre Kaufhallen verloren, die haben eigentlich alles verloren damals. Das sind Ihre Themen.
Nicht nur. Am Ende ist das, was ich hier verhandle, keine rein ostdeutsche Thematik, das wäre mir auch zu eindimensional. Diese Schattenseiten des Strukturwandels findest du nicht nur im Osten oder in Osteuropa, sondern durch die Globalisierung zunehmend auch im Westen. Denken wir nur ans Ruhrgebiet oder in den USA an eine Stadt wie Detroit. Außerdem erleben wir gerade wieder eine Zeit großer Veränderungen, von denen wir noch gar nicht wissen, wo sie uns hinführen werden. Das erinnert tatsächlich ein wenig an 1989/90.
Wirklich?
Am Ende geht es um Gerechtigkeit. Wie begegnen wir diesen Krisen und Umbrüchen als Gesellschaft? Die Frage ist doch, wie wollen wir eigentlich leben in einer sich rapide verändernden Welt? Mich haben die Erfahrungen der frühen 90er-Jahre auf jeden Fall für solche Entwicklungen sensibilisiert. Das fließt in meine Arbeit ein, auch wenn das lange Zeit unbewusst geschah. Erst später habe ich angefangen, mich in meiner Malerei konkret mit den Folgen dieses extremen Umbruchs auseinanderzusetzen. Der nichts anderes als ein radikaler De-Industrialisierungsprozess war, verbunden mit einem massiven Beschäftigungsabbau. Die Abwanderung in der ostdeutschen Provinz, in den Flächenländern, war dann sehr stark, und sie hält immer noch an. Insbesondere in den Jahrgängen 1975 bis 1989 sind viele der jungen Leute, vor allem die jungen Frauen und die besser Ausgebildeten, in den Westen gegangen. Ungefähr 750.000 Menschen, das ist etwa ein Fünftel dieser Bevölkerungsgruppe.
Ein Braindrain?
Absolut. Insgesamt sind es fast drei Millionen, die der Osten seit der Wende verloren hat. Man kann das von außen, wenn man auf die sanierten Städte und Straßen blickt, oft schwer verstehen. Aber wenn so viele gerade von den jungen Menschen fehlen, dann sind diese Orte dysfunktional.
Die Mauer an sich und den Schießbefehl gab es seit 1961 nur, weil auch davor schon Leute abgewandert sind. Vier Millionen Leute sind nach Kriegsende bis dahin schon gegangen.
Klar, die DDR hatte Zeit ihres Bestehens mit Abwanderung zu kämpfen, das betrifft besonders die Jahre bis zum Mauerbau. Die Orte, die ich male, thematisieren aber eher die Entwicklung danach. Was macht es mit so einem Ort, der eigentlich nicht mehr gebraucht wird? Und was sagt es aus, wenn so eine moderne, futuristische Architektur wie ein ostmoderner Plattenbau überwuchert ist? Dann ist völlig klar, dass da irgendwas vorgefallen ist, was nicht planmäßig war, weil es Dinge sind, die eigentlich für die Zukunft gebaut wurden, gerade diese Plattenbauten. Da hat man versucht, das Wohnungsproblem zu lösen, vor dem wir heute wieder stehen. Diese Art von aufgegebenen Orten findest du überall im Osten. Die sahen, bedingt durch die Standardisierung des Wohnungsbaus wie auch vieler anderer Dinge, am Ende überall gleich aus.
Ist das der Grund, warum Ihre Motive, zumindest, wenn es um diese Architektur geht, auch meist menschenleer sind? Die Bilder wirken wie Kulissen, wie ein Szenenbild im Theater, aber da sind keine Leute drin.
Das kann man so sagen. Ich komme ursprünglich eher von der Figuration. Das ist eigentlich mein Ansatz, und im Prinzip ist der in diesen Bildern auch noch vorhanden. Nur geht es hier genau um diese Menschenleere, um die Abwesenheit des Menschen. Das ist das darunterliegende Thema, das auch heute in die politischen Verhältnisse in den neuen Bundesländern hineinstrahlt. Man kann hier sehr anschaulich, fast exemplarisch sehen, was in Regionen geschieht, die solche Entwicklungen durchlaufen. Die Menschen gehen weg, die Häuser stehen leer. Der Leerstand ist Synonym einer durch Abwanderung und Überalterung gekippten Demografie, was auch Folgen auf die Wahlergebnisse hat. Rechte Parteien gewinnen besonders stark in ehemaligen Industriegegenden. Das sind leider keine Entwicklungen, die sich ohne weiteres korrigieren lassen. Du kannst jetzt nicht sagen: Okay, wir haben das Thema Abwanderung und Überalterung bewältigt. Denn die Leute fehlen einfach.
Deswegen reden wir darüber, weil das Thema noch nicht bewältigt ist. Auch wenn Ihre Bilder menschenleer sind und eine gewisse Form von Verfall zeigen, wirken sie nicht ausschließlich trist und depressiv, sondern sind zugleich auch immer ein bisschen shiny und Pop.
Alles andere wäre grauenhaft. Wenn ich sowas mit einem so großen Aufwand male, ist das ein Ausdruck der Empathie, weil ich damit emotional verbunden bin. Und deswegen wohnt dem auch ganz automatisch etwas Positives und Hoffnungsvolles inne. Außerdem darf ein Bild nicht zu eindeutig und plakativ werden. Es muss zumindest das Potenzial haben, mehrere Interpretationen zuzulassen. Je nachdem, welchen Hintergrund der Betrachter hat. Wenn ich mit Leuten aus Westdeutschland über die Bilder ins Gespräch komme, freue ich mich immer wieder, dass sie ihre eigenen Assoziationen haben.
Eine Frage zur Technik: Klischeehaft gesprochen wurde in den 1980ern im Westen an den Kunsthochschulen nicht die Malerei- und Zeichenklasse besucht. Das war eher verpönt. Der spätere, international große Erfolg von Malern aus dem Osten - Stichwort Neo Rauch und Neue Leipziger Schule - beruhte hingegen auch darauf, dass sie handwerklich gut malen konnten. Und das kann man über Ihre Bilder ebenso sagen. Sie haben in den 90ern in Berlin-Weißensee studiert. Die damaligen Profs stammten wahrscheinlich noch aus der DDR? Welche Rolle spielt das Handwerk, dieses technisch Gute?
Für mich spielt das eine große Rolle. Ich fand schon immer, egal ob in der Literatur oder im Film, Kunst interessant, die so nah wie möglich an der Wirklichkeit ist. Die also realistisch ist, die Wirklichkeit abbildet. Deswegen ist es für mich essenziell, auch selber verstanden zu werden und möglichst viele Leute ansprechen zu können. Dafür muss man eben realistisch arbeiten. Das muss dann auch handwerklich überzeugend gemacht sein, sonst nehmen dir das die Leute nicht ab.
Wenn wir also über eine gewisse Tradition reden, aus der Sie auch kommen - dann kann ich mal freundschaftlich zuspitzen und fragen, ob bei Ihrem Realismus das Präfix sozialistisch herausgefallen ist?
Nein. Es ist kein sozialistischer Realismus, wenn man bei diesem Begriff bleiben will. Es orientiert sich, wenn überhaupt, eher an Leuten aus den 1920er-Jahren, also der "Neuen Sachlichkeit". Die haben nach dem Krieg mit der Hinwendung zum Realismus auch vom "Wiedereinfachwerden der Sprache" gesprochen, weil ihnen unter anderem eine sozialkritische, inhaltliche Ebene wichtig war. Dieses Anliegen fand ich schon immer gut. Das hängt sicher damit zusammen, dass Kunst, ähnlich wie Literatur oder Theater, im Osten einen anderen Stellenwert hatte als heute. Die Menschen haben immer auch zwischen den Zeilen nach Kritik an den Verhältnissen gesucht. So haben sie zwar viele Leute mit Bussen zwangsweise zu diesen großen Kunstausstellungen gekarrt, aber es waren auch sehr viele aus eigenem Antrieb dort. Insgesamt waren es immerhin eine Million Besucher, die alle fünf Jahre nach Dresden ins Albertinum gepilgert sind. Das sind mehr als heute auf der Documenta.
Auf der anderen Seite waren das natürlich auch wieder staatliche Gremien, die darüber entschieden haben, wer auf die Ausstellung kommt und wer nicht. Wer darf überhaupt Kunst machen, und wer muss sich als Totengräber verdingen?
Natürlich. Aber das Interesse der Leute war zumindest da. Das meine ich. Du wirst im Osten weniger Menschen finden, die von vornherein sagen: Ich kenne mich damit nicht aus, ich kann dazu nichts sagen. Der Zugang dazu war wesentlich niederschwelliger. Das zeigt sich auch in der Diskussionen um die Sammlungen in Dresden. Die Leute fühlen sich einfach damit verbunden.
Eine Frage, die ich auch Ihren Kolleginnen und Kollegen in dieser Reihe gestellt habe: Gibt es so was wie eine Ost-Kunst?
Wenn man auf die Kunst bis '89 blickt, dann kann man sicher von Ost-Kunst reden. Das ist ein abgeschlossenes Feld, und die Sachen sind alle unter dem Eindruck dieser Zeit entstanden, unter den Zwängen, unter den Verboten. Da hast du die sogenannte Staatskunst. Daneben aber auch andere Künstler, von denen Sie hier schon Leute dabei hatten, die sich an den Verhältnissen abgearbeitet haben und die man dann drangsaliert hat, bis sie ausgebürgert wurden oder selber ausgereist sind. Und es gibt jetzt sicher eine ganze Reihe Leute, die sich wie ich mit dem Thema Ostdeutschland inhaltlich beschäftigen oder in diesen Traditionen arbeiten. Viele Künstler mit einer gleichen Sozialisation haben aber auch ganz andere Wege eingeschlagen.