Paris 2017. Polizeitransporter jagen mit Blaulicht durch die Straßen. Im Halbdunkel eines Bistros stecken zwei flüchtige Deutsche die Köpfe zusammen. Ein Bekannter bietet Georg (Franz Rogowski) an, ihn im Auto nach Südfrankreich mitzunehmen, aber nur ein Platz sei frei. Dann gibt Paul, der in Christian Petzolds neuem Film "Transit" weiter keine Rolle spielt, Georg einen Brief. Die Briefschreiberin hat ihren Mann verlassen, den Abschiedsbrief soll Georg dem Schriftsteller, den er nicht kennt, ins Hotel bringen. Schnitt auf den geöffneten Brief. Sütterlinschrift. So schreibt heute kein Mensch mehr.
Derart historisch unkorrekt beginnt der Film nach dem Roman "Transit" von Anna Seghers. Und die auseinanderklaffenden Zeitebenen werden bis zum Schluss durchgehalten. Wie Seghers selbst, die ihren Flüchtlingsroman auf der Schiffspassage 1941 von Marseille nach Amerika schrieb, sind die Charaktere Verfolgte im Zweiten Weltkrieg. Die Wehrmacht ist in Paris einmarschiert, viele flüchten in den unbesetzten Süden. Doch unbeirrt zeigt Hans Fromms Kamera das heutige Frankreich. Und Georg, der Radio- und Fernsehtechniker, ist zwar aus einem Konzentrationslager geflohen, trägt aber Jeans und ein modernes Sakko.
In Derek Jarmans "Caravaggio"-Biopic guckte ein Kardinal auf seine Armbanduhr, Sofia Coppolas "Marie Antoinette" tanzte zu Post-Punk und aß Kartoffelchips. Ansonsten sind Anachronismen, auf der Bühne gang und gäbe, im Kino selten.
Platter Realismus ist von Christian Petzold ("Die innere Sicherheit", "Wolfsburg", "Yella") ohnehin nie zu haben. Doch diesmal übertrifft er sich selbst. Die Idee zur "Transit"-Adaption wurde noch mit Harun Farocki entwickelt, mit dem 2014 verstorbenen Künstler und Filmemacher. Farocki und Petzold arbeiteten auch bei den historischen Filmen "Barbara" (2012) und "Phoenix" (2014) zusammen. Die Settings, die DDR 1980, das zerbombte Berlin 1945, sind historisch, aber der Blick ist zeitgenössisch: "Man muss sich einfühlen in die Zeit, aber darf bloß nicht so tun, als käme man wirklich von da", sagte Petzold im Monopol-Interview zu "Barbara". "Transit" verfolgt diese Leitlinie konsequent, wenn nun sogar noch die historisierenden Kulissen wegfallen. Nur eine Handvoll Requisiten verweisen auf die Hitlerzeit: Sütterlin-Briefe, eine Morphiumspritze, ein alter Koffer. Der Rest ist Dialog. Doch Petzold blendet die Zeiten – 1940 und 2017 – nicht einfach bloß geschickt ineinander: die Kreuzung funktioniert, weil sie einer inneren Logik folgt.
Der Schriftsteller Weidel, den Georg im Hotel sucht, hat sich umgebracht. Mit den Manuskripten und Papieren des Toten flüchtet Georg – allein er weiß von Weidels Selbstmord – nach Marseille. Georg nimmt fast unabsichtlich die Identität des Schriftstellers an, denn auf dem amerikanischen Konsulat der Hafenstadt geht man davon aus, dass er und Weidel identisch sind. Marie (Paula Beer), die Weidel verließ, sucht ihren Mann überall. Sie fühlt sich schuldig. Sie hat sich getrennt, doch die Erinnerung lässt sich nicht abschütteln. "Transit" erzählt auch die seltsame Liebesgeschichte zweier verlorenen Seelen, Paula und Georg, inklusive einer der erotischsten Szenen, die je mit zwei angezogenen Akteuren gedreht wurden. Es gibt eine Dreieckskonstellation – soll Paula mit Georg oder ihrem Arzt-Freund (Godehard Giese) die ersehnte Schiffspassage antreten? – wie in "Casablanca" mit Bogart und Bergman. Und auch manche Nebenfigur (Barbara Auer und Justus von Dohnanyi als Transitäre, Matthias Brandt als Barkeeper) erinnert an Michael Curtiz' Kultfilm von 1942, der ja ebenfalls in einer Hafenstadt spielt. Seghers erfuhr übrigens von den "Casablanca"-Dreharbeiten, als sie in New York ankam.
Zentraler Schauplatz von Roman und Film ist Marseille. Für die Migranten des Zweiten Weltkriegs war die Stadt am Mittelmeer das Tor zur Freiheit. Seghers erzählt eindrucksvoll von oftmals vergeblichen Versuchen, Schiffstickets oder Transitvisa zu erlangen. Heute kommt die Fluchtbewegung aus der anderen Richtung. Immer noch trägt das Meer die Boote und die Hoffnungen, immer noch kann das Meer zur unüberwindbaren Grenze werden. Und: Krieg ist Krieg. Das 1940 der Europäer ist das 2018 der Syrer.
Petzolds Kino ist vor allem ein Kino der Gesichter. Deshalb ist "Transit" nicht zuletzt Franz Rogowskis Film. Georgs zwischen Hoffnung, Lebenslust und tiefster Bedrückung changierende Züge scheinen das ganze Drama zu bergen. Da ist es eben egal, ob der Exilant Georg oder Achmed heißt. Ähnlich der Künstlerin Miriam Cahn, die ihre Gemälde voller nackter Existenzen, die durch abstrakte Wüsten fliehen auf der Documenta 14 mit dem Titel "könnteichsein" zusammenfasste, überträgt Petzold die Exil-Erfahrung auf das Publikum. 2017, als "Transit" gedreht wurde, hätte der Front National die französischen Wahlen gewinnen können. Ein politischer Umschwung – und Bürger werden zu "Volksfeinden". So betrachtet, wäre "Transit" weniger eine Literaturverfilmung und schon gar nicht ein historischer Film, sondern eine Dystopie, ein Versuch über die Zukunft.