"Am Anfang des Lebens eines Künstlers steht immer ein Trauma.", sagte Christian Boltanski zu seiner großen Retrospektive im Centre Georges Pompidou 2019. Sein Trauma verarbeitet der Franzose seit über 50 Jahren in seinen Werken. Den unaussprechlichen Horror des Holocaust. Der Vater, der sich während der Besetzung von Paris unter dem Parkettboden der Familienwohnung versteckte, die KZ-Überlebenden, die vor dem jungen Boltanski von Auschwitz erzählten. Tod als allgegenwärtige Kindheitsbegleiter. Boltanskis Werk durchzieht er wie ein roter Faden als Frage und als unausweichliches Ende, gegen das nur der Erhalt der Erinnerung, und die Überlieferung der Geschichte helfen kann.
Auch in seiner Ausstellung "Après" (auf deutsch: Danach) in der Pariser Galerie Marian Goodman ist der Tod allgegenwärtig. Zunächst als klinisch kalter Hauch, der uns an die aktuelle Pandemie erinnert. Der Künstler hat die meisten Werke während des Lockdowns im Frühling 2020 geschaffen. Im ersten Ausstellungsraum wecken die Leintuchskultpuren "Les linges" die Assoziation zu Krankenhausbettwäsche. Das makellose Weiß der Tücher hat etwas von abgestreiften, abgeworfenen Häuten. Chaotisch, und doch weich geformt türmen sie sich auf den Bahren auf. Die verschlungenen Neonlichter über ihnen tauchen den Raum in kaltes Licht. Die Bahren stehen ungeordnet. Das Publikum kann zwischen den hohen Skultpuren umherwandeln oder sich verstecken. Alles wirkt klinisch, aber Boltanski bietet hier kein direktes Werk zur Pandemie. Fast unmerklich huschen Lichtflecke über die Wände: Es sind projizierte Gesichter von Jugendlichen. Fotos, die Boltanski bereits vorher in Werken genutzt hat. Sie erinnern an Gesichter von Toten, die flüchtig in unseren Gedanken auftauchen, deren Züge wir in einem Fremden wieder zu erkennen glauben.
Die Frage nach dem Tod
Es sind die Geister, die der Künstler rief, die uns den Weg in die Unterwelt weisen. Christian Boltanski konzipiert seine Ausstellungen als Gesamtkunstwerk, eine Geschichte, in die der Zuschauer eintauchen soll. Symbolisch trennen wir uns von der Welt der Lebenden, indem wir den Treppen nach unten ins Kellergeschoss folgen. Auf dem Treppenabsatz wieder ein Geist, "Le passage" nennt sich das Video. Es zeigt Besucher der Retrospektive des Centre Pompidou, die unaufhörlich die Rolltreppen hinauffahren. Mit dem Titel der Ausstellung, "Après", weist Boltanski schon darauf hin: die Arbeiten hier repräsentieren eine Werkphase nach der Retrospektive im Centre Pompidou. Der Künstler geht hier der philosophischen Frage nach, was nach dem Tod kommt. Dass wir uns hier 'nur' in einer Galerie befinden, fällt nicht auf: die Szenographie wäre durchaus eines Museums würdig.
In einem dunklen Ausstellungsraum im Untergeschoss zeigen vier fächerartig aufgestellte Videobildschirme Bilder einer perfekten Welt: ein pittoresker Sonnenuntergang am Meer, ein romantisch verschneiter Winterwald, ein paar Rehe, die auf einer grünen Wiese grasen, ein rosaroter Himmel mit Vögeln auf einem Baum. Es handelt sich um Videos, die Boltanski bei einer Bildagentur angekauft hat, Zeichen ihrer Werbetauglichkeit und perfekten Oberflächlihckeit: ihnen wären tausende Likes auf Instagram sicher, so schön und harmonisch sind sie.
Doch auch bei diesem Werk gilt es, genau hinzusehen. "Subliminal" ist der Titel. Abrupt tauchen in den perfekten Bildern Störungsbilder auf, die nur einen Bruchteil von Sekunden zu sehen sind. Es sind Bilder, die wir alle kennen, sie zeigen die grausamsten Massaker des 20. Jahrhunderts: den Holocaust, den Vietnamkrieg, Algerien... Der Künstler selbst bezeichnet "Subliminal" als sein politischstes und hoffnungslosestes Werk. "Wir sind nicht in der Nachkriegszeit, wir sind mitten im Krieg. Uns ist es lieber, ein gefälschtes Bild des Lebens zu sehen. Hier in den Bilder der vier jahreszeiten sieht man keinen Menschen. Es ist eine Kulisse, die nicht real ist. Der Mensch ist zum Besten aber auch zum Schrecklichsten fähig. Die Brandstifter sind immer Politiker, die ihren Einfluss nutzen um Menschen gegeneinander aufzuhetzen."
Falsche Spiegelbilder
Ein Licht lockt den Besucher weiter. Der Schriftzug "Après" leuchtet in Glühbirnen auf, deren Farbe an Yves Klein erinnert. Eine Technik, die der Künstler bereits in vorigen Ausstellungen nutzte. Im Centre Georges Pompidou waren es die Schriftzüge "Départ" (Abfahrt) und "Arrivée" (Ankunft). Was "Après" hier ankündigt, ist nichts anderes als das Hinabsteigen in die Grab. Der letzte Ausstellungsraum beeindruckt besonders: Es ist ein alter Kellerraum unter dem Stadtpalais im Pariser Viertel Marais, in dem sich die Galerie Marian Goodman befindet. Er hat seine ursprüngliche Form mit gewölbten Steindecken aus dem 17. Jahrhundert behalten und erinnert somit stark an eine Krypta. Im Zentrum des Saals drei gläserne Särge voller weißer Leinentücher. Ihnen gegenüber ein falscher Spiegel; der Besucher sieht sich somit bei der Sargschau selbst. Tritt er jedoch hinter den Spiegel, kann er ungesehen die anderen Besucher und den von ihm zurückgelegten Weg ansehen.
Für Boltanski steht am Ende des Weges die Ruhe. Die Todesstille nach dem Chaos des Lebens, das voller Leid ist. Der Künstler verweist auf die shintoistische Bedeutung des Spiegels: Auf dem Weg zu zur Erleuchtung begegnet der Gläubige in den Shinto-Schreinen einem Spiegel: Man steht sich selbst gegenüber. Wechselt man die Seite, sieht man wie ein Geist auf den eigenen Lebensweg zurück. Die gläsernen Särge lassen aber auch andere Assoziationen auftauchen: in der Sagen- und Märchenwelt wirkt der gläserne Sarg beinahe als alchimistisches Mittel der Metamorphose. Der Tod im gläsernen Sarg ist Scheintod, ihm folgt eine andere, neue Existenz. Der mittlere Sarg, den Boltanski hier nutzt, war bereits vor 30 Jahren Teil einer Ausstellung in Berlin.
Vielleicht ist das, was 'Danach' kommt, doch nicht das Ende, sondern eine Verwandlung, bei der wir aktiv werden müssen, um die Fehler der Geschichte nicht zu wiederholen?
Christian Boltanski lässt das offen. Er ist ein ständig Fragender und genau das macht ihn frei: „Diejenigen, die glauben, sie kennen alle Antworten machen mir Angst. Wenn man davon überzeugt ist, will man doch alle diejenigen töten, die nicht so denken wie man selbst.“