Kunstparcours "Gegenwarten" in Chemnitz

Neue Wege in der Autostadt

Wenn ein Buckelwal im Parkhaus strandet: Die zweite Ausgabe des Kunstparcours "Gegenwarten" in Chemnitz beschäftigt sich mit Klimakrise und Nachhaltigkeit. Und erzählt auch von den Befindlichkeiten einer Stadt

450 Kilogramm CO2 verbrauchen die Menschen in Chemnitz pro Stunde für die Nutzung des Internets. Jede Suchanfrage bei Google hängt an einem Server. Und damit der optimal läuft, werden Serverräume auf konstante 22 Grad Celsius klimatisiert. Deutsche Rechenzentren häufen so jährlich Millionen Tonnen umweltschädlicher Emissionen an. "Eine halbe Stunde Streaming auf Netflix verursacht ungefähr 1,6 Kilo CO2", erklärt der Künstler Simon Weckert. Das sei immerhin so viel, wie man mit einer kurzen Autofahrt verursachen würde. 

Weckert, geboren 1989 in Chemnitz, behauptet von sich selbst, er lebe im Internet. Zum Presserundgang der zweiten Ausgabe des internationalen Kunstprojekts "Gegenwarten" in der Chemnitzer Innenstadt steht er leibhaftig vor der eindrücklichen Kulisse der Stadthalle. Noch bis Ende September steht neben dieser eine merkwürdige Konstruktion: Ein angedeuteter Daten-Schornstein stößt regelmäßig Rauch aus – ein Symbol für den sonst unsichtbaren Weg, den der Fußabdruck unseres digitalen Konsums in die Atmosphäre nimmt. Rauchzeichen fürs Klick-Bewusstsein.  

Bereits zum zweiten Mal laden die Kunstsammlungen Chemnitz zum Rundgang im öffentlichen Raum ein. Standen in der ersten Ausgabe vor vier Jahren noch die Geschichte und Gesellschaft der Stadt im Vordergrund, sind es nun unter dem Titel "New Ecologies" globale Themen: Klimakrise, ökologischen Fragen und Nachhaltigkeit. Unter den vom Kuratorenduo Anja Richter und Florian Matzner geladenen Positionen sind die Rechercheagentur Forensis/Forensic Architecture, das französische Kollektiv Claire Fontaine, das experimentelle Architekturbüro Raumlabor sowie die Klasse von Nevin Aladağ an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. 

Ein urbanes Aquädukt

Viele der 20 künstlerischen Installationen und Interventionen verbinden die großen Fragen der Zeit mit der lokalen Realität: Die 1999 in Berlin gegründete Gruppe Raumlabor hat mitten im Zentrum zwischen den Roten Turm und den Lichtschacht einer Tiefgarage ein Aquädukt aus rotem Holz gebaut. Wasser in der Stadt haben die Künstlerinnen und Architekten schon in Hongkong und Montreal thematisiert. In Chemnitz rückt nun Regen in den Fokus: Der Rote Turm, älteste Bauwerk der Stadt und mit seiner Form Inspiration für die Spülmittelflaschen der Marke Fit!, ist mit Regenrinnen versehen. Statt in die Kanalisation fließt das vom Himmel fallende Wasser temporär über das Aquädukt in ein Loch: Die sechs Meter tiefe Öffnung auf dem zentralen Platz scheint funktionslos, hat immerhin ein paar Fenster zur Tiefgarage. Extra angesetzte Schilf- und Wasserpflanzen reinigen das Regenwasser. Das Sammelbecken hat zudem eine Entnahmepumpe, mit der umliegende Parks und Bäume gegossen werden können.  

Chemnitz ist eine Stadt der Gegensätze: Statistisch kommen auf jede Bewohnerin mehr als 60 Quadratmeter Grünfläche. Zugleich gehört der Ort deutschlandweit zu den Städten mit den meisten zugelassenen Autos pro Einwohner. Ohne eigenes Fahrzeug ist der Alltag in der Kulturhauptstadtregion für 2025 auch kaum denkbar, das Zentrum ist entsprechend deutlich von Parkhäusern und Tiefgeragen gezeichnet. Obwohl Menschen in der DDR oft jahrelang auf ein Auto warten mussten, hat Chemnitz schon lange den Ruf einer motorisierten Stadt: Nach dem Zweiten Weltkrieg setze man auf pompöse Weiträumigkeit und ließ für die Inszenierung von politischen Paraden eine ins Nichts führende innerstädtische sechsspurige Autostraße bauen. 

Mitten auf dieser zentralen Brückenstraße parkt vor dem Verlagshaus der "Freien Presse" ein silberblauer BMW; Baujahr 1990, Jahr der Wiedervereinigung. Schon kurz nach Installation der Arbeit "Blind Date" des Kunstduos Haubitz+Zoche aus München kam die Polizei und prüfte das ungewöhnliche Gefährt: 1600 Liter Wasser fasst das präparierte Auto. Fahrenden würde es bis zum Halse stehen. 2006 erstmals ausgestellt, hat das Auto angesichts der Überschwemmungskatastrophe im Ahrtal traurige Aktualität erlangt. In Sachsen zerstörte die Jahrhundertflut schon 2002 viele Existenzen und produzierte Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben. 

Autos im Wasser könnten Markenzeichen werden

Stefanie Zoche formuliert im Katalog, dass sie es äußert frustrierend fände, "dass die CO2-Emissionen weiterhin weltweit steigen, obwohl die erste Klimakonferenz bereits 1979 stattfand!" In München stand der BMW schon mitten im Zentrum vor der Oper auf der Maximilianstraße mit vielen Luxusgeschäften. Hier in Chemnitz parkt es auf der einstigen Karl-Marx-Allee, die monumentale Büste des Namensgebers in Sichtweite. 

Mit Wasser gefüllte Autos könnten zu einem Markenzeichen der "Gegenwarten" werden, die sich als Format hoffentlich verstetigen. Bei der ersten Ausgabe hatte Roman Signer 2020 einen Skoda im Schlossteich versenkt. Die Lichter des entkernten Automobils leuchteten noch, als wäre der Unfall gerade erst passiert. In Chemnitz führte das zu mehreren Anrufen besorgter Anwohnerinnen beim Rettungsdienst, und auch zu Vandalismus.

Wie schon 2020 sind lokale Partner in den Parcours eingebunden: Der gemeinnützige Verein Begehungen erinnert an eine Protestaktion aus dem April 1990: Eine Gruppe von Umweltaktivistinnen und -aktivisten machte damals mit einem Banner auf den verheerenden Zustand der durch die Stadt fließenden Chemnitz aufmerksam. Nach Jahrzehnten industrieller Verschmutzung war dieser biologisch tot. 

Tafeln mit historischem Bildmaterial erinnern an die Umweltbewegung der DDR. "Der Chemnitzfluss soll wieder leben" ist als Re-enactement am städtischen Neumühlenwehr zu lesen und ist deutlich eindrücklicher als die fünf Leuchtkästen mit Feuer-Emojis der Gruppe Claire Fontaine am Museum Gunzenhauser, die auf Greta Thunbergs Worte "Our house is on fire" verweisen sollen. 

Da liegt ein Wal im Parkhaus

Schon allein aufgrund seiner Dimension berührend ist die Skulptur von Gil Shachar in der ersten Tiefgarage von Chemnitz, die direkt zu den Kunstsammlungen am Theaterplatz führt: Hier liegt die graue Abformung eines 14 Meter langen Buckelwals, dem größten Säugetier der Welt. Das Tier wurde im August 2018 an der Westküste Südafrikas angespült und starb. Die Todesumstände sind unklar, seine dicke Hautschicht wies Bissspuren von Haien und Verletzungen von einer Schiffsschraube auf. Im Museumsshop zeigt ein viertelstündiger Film die verschiedenen Schritte der Abformung am Strand bis hin zur Schaffung des Objekts in einer Werkshalle.

Ortspezifischer wird es im Chemnitz Open Space hinterm sogenannten "Nischel": Im Schatten des Karl-Marx-Kopfes präsentieren Studierende der Klasse Nevin Aladağ aus Dresden Einzelprojekte: Johanna Herrmann trägt an sieben aufeinanderfolgenden Tagen jeweils ein Stück Aquarellfarbe auf eine Leinwand und setzt sie der Witterung aus – es entsteht ein Wettertagebuch der Stadt. Taemen Jung wandert mit einem Beet koreanischer Perillapflanzen durch Chemnitz. Die kommt in der koreanischen Küche bei der Herstellung von Salaten und Kimchi zum Einsatz und wird von vielen Migrantinnen und Migranten selbst gezüchtet. Kea Uhlig kommentiert das Grau des betonversiegelten Chemnitzer Bahnhofsvorplatzes mit aufgeklebten Fotografien von Rasen, Blumen- oder Gemüsebeeten. 

So erzählt "New Ecologies" mit jedem Beitrag auch Stadtbefindlichkeit. Alle Orte sind kostenfrei zugänglich und dank Faltblatt mit Stadtplan und eigener App schnell gefunden. Die führt auch ins Foyer der Universitätsbibliothek. Dort steht eine Anzeigetafel, wie sie in Flughäfen zu finden ist. Ulrich Formann`s "Slotmachine" verzeichnet zeitaktuell alle sogenannten Geisterflüge. Über Zeitfenster wird Fluggesellschaften das Recht zugestanden, die Infrastruktur von Flughäfen zu nutzen. Dabei gilt das "use it or lose it"-Prinzip": Wird ein Slot zu weniger als 80 Prozent genutzt, geht er verloren. Um die Quote einzuhalten und den Platz nicht an die Konkurrenz abgeben zu müssen, werden Flüge absurderweise auch ohne Passagiere durchgezogen. 

Noch mehr Gründe für Chemnitz

Chemnitz hat keinen eigenen Flughafen, geschweige denn eine durchgängige Autobahnverbindung ins benachbarte Leipzig. Mit dem IC sind es von Berlin drei Stunden. Ein Ausflug lohnt sich besonders Ende September: Dann eröffnet die Medienkunstausstellung "Pochen" mit 20 künstlerischen Positionen, die sich im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine mit dem Element Feuer auseinandersetzen. Beteiligt sind unter anderen Henrike Naumann, Dana Kavelina, Yarema Malashchuk & Roman Khimei und Stefan Schleupner. 

Derweil läuft der Countdown: 2025 ist Chemnitz mit 38 Gemeinden und Kommunen Kulturhauptstadt Europas. Über 100 Projekte und 1000 Veranstaltungen sind geplant. Werke von Jeppe Hein, Alice Aycock oder Richard Long sind schon jetzt entlang des Skulpturenpfads "Purple Path" in der Region installiert.