Herr Dittrich, hilft Beethoven gegen Rechtspopulismus?
Ja, Beethoven hilft gegen jegliche Art von Populismus. Wir haben diese Erfahrung gerade am vergangenen Freitag gemacht. Menschen, die sich der Welt öffnen und nachdenken wollen – und zwar nicht nur über eine Kriminalitätsstatistik oder ein politisches Argument – finden eine Verbindung zur Kunst. Nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen. Kunst stärkt den Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl. Sie ist ein Gegenentwurf zu den ganz einfachen Antworten des Populismus.
Sie haben nach dem Chemnitzer Popkonzert gegen Rechts am vergangenen Wochenende ein Klassik-Open-Air unter dem Titel "Gemeinsam stärker - Kultur für Offenheit und Vielfalt" veranstaltet. Hat #wirsindmehr Ihnen nicht gereicht?
Doch, wir waren mit vielen Kollegen aus den Theatern auf dem Konzert und waren sehr glücklich, dass die Kollegen aus der Popbranche so schnell ein so großes Ereignis auf die Beine gestellt haben. Es war wichtig, diese Atmosphäre in der Stadt aufzusaugen. Aber die Künstler und Mitarbeiter an unseren Häusern hatten das starke Bedürfnis, sich aktiv und mit ihren eigenen Kunstformen zur Situation in Chemnitz zu verhalten. Wir haben den Anspruch, dass Kultur in unserer Stadt auf Augenhöhe auftreten soll, und dann muss man sich natürlich auch positionieren, wenn es Spannungen gibt. Nur wenn die Kunst das tut, ist sie relevant. Uns war es wichtig, ein Erlebnis zu schaffen, das Differenzierung ermöglicht und nicht durch Polizeilinien abgegrenzt wird. Wir wollten uns versichern, dass die Bilder von rechten Aufmärschen eben nicht das Bild unserer Stadt sind. Ich glaube, diesen Nerv haben wir getroffen.
In Chemnitz wurde ein mutmaßliches Tötungsdelikt durch Flüchtlinge für rechte Hetze instrumentalisiert. Hatten Sie das Gefühl, dass es durch Ihr Konzert möglich war, an einen getöteten Menschen zu erinnern, ohne die Vereinnahmung dieser Tat von rechts zu legitimieren?
Ja. Wir haben die Trauer thematisiert. Es gab ein Tötungsverbrechen, und das ist furchtbar. Wir haben schon in unserem Aufruf betont, dass Sorge, Angst oder verlorenes Sicherheitsempfinden auf jeden Fall artikulierbar sein müssen, aber eben niemals im Kontext von Gewalt, Hass und Hetze. Diese Unterscheidung wurde klar getroffen. Das Konzert war regelrecht kathartisch, das war die Entladung einer Anspannung, die sich über 14 Tage angestaut hatte. Viele Menschen haben in ihrer Unsicherheit in Beethovens 9. Sinfonie etwas zum Festhalten gefunden. "Diesen Kuss der ganzen Welt", und eben nicht der halben, oder der Viertelwelt. Als der Regen kam, sind die Allermeisten geblieben. Der Regen hat die vielen Tränen überdeckt, die geflossen sind. Das war unglaublich.
Gibt es irgendwelche Überschneidungen zwischen den Menschen, die sich den rechten Protesten angeschlossen haben und Ihrem Publikum, oder sind das völlig verschiedene Öffentlichkeiten?
Ich glaube, dass es immer wieder sinnvoll ist, diese Angebote an alle zu machen und niemanden auszuschließen. So war unser Titel gewählt – gemeinsam stärker. Wir wollten für alle da sein, die die Gemeinschaft suchen. Ich weiß auch, dass man bei bestimmten Menschen an Grenzen stößt. Die wollen den Diskurs nicht mehr. Bei Radikalen muss man ein klares Stopp-Zeichen setzen, aber zunächst gilt: Unsere Kunst richtet sich an alle.
Wo waren Sie selbst während der Ausschreitungen?
Ich war eigentlich ausnahmslos auf der Straße, ich glaube, während einer laufenden Spielzeit war ich noch nie so viel an der frischen Luft wie in diesen 14 Tagen. Ich halte es für eine Pflicht, sich in so einem Fall demokratisch zu positionieren. Es gab ja nicht nur die Demonstrationen gegen den Hass und die Hetze der rechten Aufmärsche. Es gab auch viele Veranstaltungen, zum Beispiel der evangelischen Kirche, die sich mit der Trauer beschäftigt haben und die Menschen stärken wollten, die eben nicht als Radikale auftreten. Der Mitte, wenn Sie so wollen. Da haben wir als Künstler Präsenz gezeigt, weil der Austausch mit denen, die zum Gespräch bereit sind, Teil unserer täglichen Arbeit ist.
Haben Sie das aggressive Auftreten von Rechtsradikalen oder der Schulterschluss von AfD und Pegida überrascht, oder haben Sie so etwas kommen sehen?
Es gab Dinge, die haben mich wirklich erschreckt. Zum Beispiel die Symbolik der "Weißen Rose" bei der AfD, die ja ein antifaschistisches Symbol ist. Andere Dinge sind schon länger bekannt – gerade die Vereinnahmung der Symbolik der friedlichen Revolution in der DDR durch die populistischen Strömungen. Der Ruf "Wir sind das Volk!" wurde gestohlen, und das wurde zugelassen. Das hat mich nicht überrascht, weil es schon länger der Fall ist, aber es erschüttert mich nach wie vor.
Sie haben immer wieder betont, dass in Ihrem Ensemble Multikulti Realität ist. Gibt es Menschen, die jetzt Angst haben?
Ja. Für einige internationale Künstler, die gerade ihre Spielzeit bei uns begonnen hatten, waren die Ausschreitungen ihr erstes Erlebnis hier in Chemnitz. Um die haben wir uns sofort gekümmert. Es wäre falsch zu leugnen, dass es hier Hooligans und rechtsradikale Strukturen gibt, aber eben nicht in der Form, dass jede Woche der Mob durch die Straßen zieht. Durch die internationalen Kollegen, die hier schon länger sind und ihren künstlerischen Hafen gefunden haben, wissen inzwischen alle, dass das nicht die Normalität ist. Das ist nicht das Gesicht von Chemnitz. Normal sind vor allem die weltoffenen Menschen. Die Technische Universität hat den höchsten Ausländeranteil aller Unis in Sachsen. Die Wirtschaft in der Region giert nach diesen Fachkräften und es trifft sie hart, wenn der internationale Ruf dieser Stadt so heruntergezogen wird. Deshalb bündeln sich nun die Kräfte, das geradezurücken: die Kultur, die Gewerkschaften, die Kirchen und viele soziale Organisationen.
Trotzdem gibt es nicht-weiße Menschen, die nicht mal mehr mit dem Zug durch Sachsen fahren wollen. Wenn es um besorgte Bürger geht, meint man ja meistens die, die nach rechts schielen. Werden die Ängste von denen, die Rassismus erleben, genug gehört?
Zu wenig, aber sie werden zunehmend gehört. Nach dem ersten Schock haben sich in Chemnitz fast fiebrig Runden gebildet, in denen genau das diskutiert wurde. Wir in Sachsen leben genauso von der Gemeinschaft wie andere Bundesländer. Die Ereignisse sind auch eine Chance, uns das wieder zu vergegenwärtigen.
Chemnitz will sich als Kulturhauptstadt 2025 bewerben. Wie ist Ihr Gefühl dazu: Zweifel oder jetzt erst recht?
Definitiv jetzt erst recht. Es kommt ja darauf an, wie die Stadt nach diesem enormen Imageschaden weitermacht. Wie reagiert das gesellschaftliche Immunsystem? Zufällig standen kürzlich wieder Tagungen der Gremien zur Kulturhauptstadt-Bewerbung an, und es gab nicht das geringste Abweichen von unseren Plänen. Unser Thema sind sowieso die Brüche dieser Stadt – die Weltkriege, der Umbau zur sozialistischen Musterstadt, dann die Wende und eine erneute Entwurzelung. Möglicherweise ist das Geschehen nach dem 26. August 2018 auch ein solcher Bruch, den es dringend zu bearbeiten gilt, damit die Erzählung entsteht, die Chemnitz Europa geben möchte.
Was muss nun als Erstes passieren, damit diese Bewerbung glaubwürdig sein kann, nachdem Bilder von Neonazi-Aufmärschen um die Welt gegangen sind?
Das muss in die Bewerbung einfließen. Es gab diese Fallhöhe, die reflektiert werden muss: Auf einem fröhlichen Fest zum Stadtjubiläum kommt es bei schönstem Wetter zu einem Tötungsdelikt und zu der Instrumentalisierung des Verbrechens. Es werden Ängste offenbar und dazu politische Positionierungen, die einem falsch vorkommen. Das alles muss Teil der Bewerbung sein, davon können auch andere lernen.
Sie haben schon 2016 die "Bautzener Erklärung" initiiert, in der sich sächsische Bühnen gegen den Rechtsruck in Deutschland positioniert haben. Darin heißt es: "Die Theater und Orchester stehen mit ihrer Kunst für eine offene Gesellschaft" – ist das noch leistbar, wenn das politische Klima so vergiftet ist, wie wir es gerade erleben?
Wir haben als Künstler nicht das Gefühl, dass das Klima in der Stadt vergiftet ist. Im Gegenteil: Es gibt eine Art neue Ehrlichkeit. Man fragt sich: Muss man wirklich überall einen Stempel "rechts" oder "links" draufdrücken, oder kann man nicht offen in einer Mitte diskutieren? Dort kann die Kultur sehr viel leisten, weil sie das Dialektische in sich trägt, weil sie aus anderen Zeiten und Regionen vermitteln kann. Das macht die Kunst immer schon, in allen möglichen Diktaturen und Demokratien. Dazu ist sie heute wieder aufgerufen. Das Kennenlernen von Vielfalt ist eine gute Chance, um Angst zu überwinden.
Sehen Sie die Gefahr, dass sich die Kultur zu bequem in ihrer Rolle als "die Guten"einrichtet? Pegida kommt ja nicht unbedingt ins Theater oder ins Museum.
Ich glaube, die Gefahr besteht nicht. Natürlich gibt es Formen von Kultur, die an Institutionen gebunden sind. Dort fühlen bestimmte Menschen Zugangsschranken, obwohl die nicht da sind. Aber der Trend geht doch immer mehr zur Öffnung in den Stadtraum. Nicht das Publikum kommt zum Künstler, sondern Künstler und Publikum erkunden gemeinsam neue Orte. Damit machen wir gute Erfahrungen.
Der Chemnitzer Künstler Andreas Mühe hat im Monopol-Interview gesagt, dass gegen das Erstarken von Neonazis nur hilft, sie endlich ernst zu nehmen. Würden Sie dem zustimmen?
Wenn er meint, dass man nichts beschönigt und offen dazu steht, dass es diese Dinge in der Gesellschaft gibt – dann bin ich seiner Meinung.
Als Theaterchef kennen Sie sich mit Mythen aus. Gerade wird die Wende immer wieder als ostdeutsches Trauma beschrieben, das sich nun Bahn bricht. Ist da etwas dran, oder wird ein neuer Mythos gestrickt, der vor allem den Rechten hilft?
Da möchte ich differenzieren. Die Wende ist kein Trauma, es war eine unglaubliche welthistorische Sekunde, ohne Blutvergießen eine Diktatur beiseite zu schaffen. Das hat zu Recht enormen Stolz bei den Ostdeutschen hervorgerufen. Was sich dann anschloss, waren viele Brüche für Einzelne, die teils traumatische Erfahrungen mit sich gebracht haben: den Verlust des Arbeitsplatzes, soziale Herabsetzung oder das Gefühl, dass die Eliten, die aus anderen Regionen hierherkamen, fremdbestimmt schienen. Diese Historie ist noch nicht aufgearbeitet und scheint nun gehäuft wieder aufzubrechen. Damit müssen wir uns beschäftigen. Die Ängste der Menschen haben sehr verschiedene Quellen, aber sie konkretisieren sich an den vermeintlich leichten Zielen: das Fremde oder die gefühlte Sicherheitslage oder "die" Politiker.
Die AfD ist zweitstärkste Kraft in Sachsen, viele trauen ihr zu, bei der Landtagswahl 2019 die CDU zu überholen. Hat sich das kulturpolitische Klima verändert?
Im Moment fühlen wir uns durch die Verfassung und die moralische Festigung der Gesellschaft sicher. Aber natürlich mache ich mir Sorgen, denn das, was ich kulturpolitisch aus der AfD höre, höhlt die Kunstfreiheit aus, das muss man klar so sagen. Es ist ein guter Moment, sich daran zu erinnern, dass das Land Sachsen eine starke Kulturszene hat, die für diese Freiheit kämpft. Sachsen hat eine reiche Kulturtradition, von August dem Starken über die bildende Kunst bis zur Musik von Bach oder Mendelssohn. Als gebürtigen Sachsen schmerzt es mich, dass das alles gerade keine Rolle spielt. Es ist dringend notwendig, sich daran zu erinnern und dieses Erbe fortzusetzen.