Chemnitz und AG Geige

Wie Karl-Marx-Stadt zum Zentrum avantgardistischer Musik wurde

Beeinflusst von Punk und New Wave, gründeten vier junge Karl-Marx-Städter 1986 die Avantgardeband AG Geige. Sie konnten nichts, aber machten alles: Elektro-Pop, DADA-Texte, Multimediabühnenshows. Die SED-Prüfer waren verwirrt, die Fans begeistert. Ein Interview mit dem Sänger Jan Kummer

Im Schatten der Großstädte Ost-Berlin, Dresden und Leipzig entwickelte sich Karl-Marx-Stadt ab Mitte der 80er-Jahre zu einem heimlichen Zen­trum avantgardistischer Musik. Ganz vorn mit dabei: die AG Geige, eine von Frank Bretschneider, Torsten Eckhardt, Ines und Jan Kummer 1986 gegründete Elektroband, die mit bizarren Klangexperimenten und schrägen Bühnenshows zu einer der wichtigsten Gruppen jenseits der offiziellen DDR-Kultur wurde.

Jan Kummer streute als Sänger damals dadaistische Texte ein, heute ist der 51-Jährige bildender Künstler und Betreiber des Clubs Atomino. Ein Gespräch über telefonanlagengroße Technik und Drogen in der DDR, überlistete Kulturfunktionäre und die Kreativszene der Stadt. Und über Kummers Söhne Till und Felix, die mit ihrer Band Kraftklub heute von Chemnitz aus die Musikwelt erobern

Herr Kummer, mit welcher Idee haben Sie 1986 Ihre Band gegründet?
Eine Idee gab es nicht. Wir haben uns während der Proben für ein Theaterstück getroffen. Das Stück kam nie zur Aufführung, aber wir vier haben uns schätzen gelernt und dann zunächst ganz altmodisch in Frank Bretschneiders Wohnung eine etwas merkwürdige, experimentelle Hausmusik gemacht. Das war damals weit verbreitet: Als Ausgleich für die fehlenden öffentlichen Möglichkeiten kam man zu Privatpartys und Künstlertreffs zusammen oder performte in unterkühlten Küchen und Wohnzimmern. Und wie das immer so ist in der Kunst, wollten wir doch irgendwann auch ein Publikum haben.

Bei Ihren Konzerten standen allerhand Requisiten auf der Bühne, im Hintergrund liefen Videos, die Bandmitglieder trugen schräge Kostüme, Sie rezitierten dadaistische Texte. Gab es Vorbilder für diesen multimedialen Ansatz?
Wichtig waren New Wave und die Punk-Bewegung als Herangehensweise. Diese Frechheit von Autodidakten, sich einfach hinzustellen und zu machen; Dilettantismus als eine Form selbstbestimmten Lebens. Geprägt waren wir von Bands wie The Residents oder auch Laurie Anderson – wobei das etwas kurios war: Wir wussten eher theoretisch, was die machten, hatten vielleicht was gelesen, aber keine Chance, die mal live zu sehen. Über Tauschringe kam man immerhin an die Schallplatten, und auf Bayern 2 gab es interessante Musiksendungen. Wie ein Staubsauger hat man das aus dem Äther aufgesaugt und es innerhalb der engen Grenzen einer Diktatur adaptiert. Wobei man sich das Vorbild eher vorgestellt hat, als es genau überprüfen zu können.

Das klingt nach do it yourself – andererseits waren Sie ja aber auch technisch sehr versiert.
Erst die neuen technischen Möglichkeiten versetzten dich in die Lage, auch ohne Ausbildung deine Kreativität auszuleben. Wir haben uns ja nie nur als Musiker verstanden, sondern als Künstlergruppe mit unterschiedlichsten Facetten. Musik, Film, Malerei, Texte – wir konnten eigentlich nichts davon, aber mit den neuen elektronischen Hilfsmitteln ging das schon alles zusammen.

Woher haben Sie die Technik bekommen?
Im Nachhinein muss ich sagen: was für eine wahnwitzige Idee, in so einem Mangelsystem wie der DDR mit Elektronik zu arbeiten! Wie immer gab es Nischen, aber die Technik war unglaublich teuer. Es gab Bands, die damals schon in den Westen fahren durften und sich ganze Einfamilienhäuser finanziert haben, indem sie Instrumente und Equipment geschmuggelt haben, die dann im Osten für Wahnsinnspreise im Umlauf waren.

Welche Technik kam zum Einsatz?
Unsere Ausstattung reichte von einem Korg MS-20 mit einer Steckverbindung, die aussah wie eine Telefonzentrale, bis hin zu Kindersynthesizern und diversen Effektgeräten. Um Loops herzustellen, haben wir ganz simpel mit Tonbandschlaufen gearbeitet, die in der Wohnung von Frank Bretschneider wie an einer Wäscheleine herabhingen. Russische Junost-Fernseher, tschechische Projektoren und amerikanische Synthesizer kamen zum Einsatz. Da ranzukommen war schwierig, das dann kompatibel zu machen war schwierig, und das Ganze dann live umzusetzen war eine sehr spannende Angelegenheit, um es mal freundlich zu sagen. Die meisten unserer Veranstaltungsorte waren technisch eher für Hochzeitsfeiern ausgelegt. Wir wollten aber, dass die Filme in Riesenformaten über der Bühne liefen und punktgenau zum Takt der Musik einsetzten – das war schon sehr ambitioniert, und oft genug ist alles zusammengebrochen.

Das heißt, es ging schon um Perfektion – nicht um punkiges Geschrammel?
Gerade das Punkige und Dadaistische muss ja perfekt kommen, auch wenn es von außen spontan aussieht. Selbst einen Witz muss man ja gut erzählen können.

Die Elektroszene im Westen feierte gerne auch mit Drogen. Wie war das in der DDR?
Da gab es gar nichts. Wir liegen ja heute nicht weit weg von den sagenumwobenen Drogenküchen der Tschechischen Republik, aber zur DDR-Zeit war dieser Geschäftszweig noch nicht entwickelt. Da wurde eher Medikamentenmissbrauch betrieben, kursierten irgendwelche Geheimrezepturen, die dann eh nie gewirkt haben …

Wie kam Ihre Musik bei den DDR-Offiziellen an?
Insgesamt setzte ab Mitte der 80er-Jahre eine kulturelle Öffnung ein. Auch dem Staatsrundfunk war klar: Mit den alten Dinosauriern kommen wir nicht weiter, wir müssen auch mal was Neues bringen. Eine unserer Kassetten landete beim Radiosender DT64, und so kamen wir in die kuriose Lage, dass unsere Musik dort ziemlich erfolgreich lief, obwohl wir andererseits keine Erlaubnis hatten, live zu spielen. In der DDR brauchte man generell eine Spielerlaubnis. Also mussten wir vor Gutachtern spielen zum Zwecke der Einstufung – aber die Mitglieder der Einstufungskommission haben reihenweise das Handtuch geworfen: Mal war einer krank, mal war einer verhindert. Aufgrund unserer Texte und der Art der Darbietung hat sich keiner von denen getraut, uns einzustufen. Wir haben ja weder Sozialismus gefeiert noch zur Konterrevolution aufgerufen …

Ihre Stücke hießen "Elektrische Bananen" oder "Hasensong", und Sie sangen Strophen wie "Wir lebten in Tagen / Von Zeychen und Wundern / Wo sind sie hin / Keiner sah sie gehen".
Das hat so manche Kommission überfordert – Dada und die DDR ging nicht so gut zusammen. Die haben vermutet, da ist irgendeine Falle, irgendeine verborgene Bedeutung, die sie nicht erkennen – also lieber nicht den Kopf hinhalten. So haben wir nie eine Musiker-Einstufung erhalten. Gott sei Dank kam eine Galeristin auf eine grandiose Idee. Es gab nämlich auch Einstufungen als Volkskunstkollektiv. Darunter fielen eigentlich Bergmannszüge, Strickzirkel oder Schachspieler, und die Auftrittserlaubnisse waren entsprechend viel niedrigschwelliger. So waren wir am Ende dann ein offiziell anerkanntes „Volkskunstkollektiv der ausgezeichneten Qualität“ – mit Spielerlaubnis.

1988 gaben Sie ein Konzert in der Galerie Oben am Marktplatz.
Wir wollten eigentlich auf dem Marktplatz auftreten, das wurde aber verboten. Der Bezirk Karl-Marx-Stadt hat uns jetzt nicht unbedingt als Aushängeschild erachtet, daher sollten wir auch den Marktplatz nicht entweihen. Aber wie das so ist in bröckelnden Diktaturen, war es fast schon ein Spaß, die Verbote zu umgehen. So kam es, dass wir im Schaufenster der Galerie gespielt haben, während die Boxen und die Leute draußen standen. Uns trennten drei Millimeter Glas von einem tatsächlichen Auftritt auf dem Marktplatz.

Spürte man den Aufbruch damals auch in den anderen Künsten?
Das Klima in der Stadt war insgesamt sehr interessant. Viele gute Leute sind in die Provinz verbannt worden – der junge Frank Castorf etwa inszenierte hier am Schauspiel seine Stücke. Es gab die Galerie Oben, die Künstlergruppe Clara Mosch und viele andere. Ein Vorteil war, dass es in Karl-Marx-Stadt keine Kunsthochschulen gab und damit auch weniger Bedenkenträger und Kontrolleure. Künstler galten eher als schräge Vögel, die man nicht zu ernst nehmen musste. Das Klima war stark von Autodidakten geprägt, das war sehr erfrischend. Man konnte experimentieren, es gab keine Berührungsängste zwischen Malern, Musikern, Theaterleuten, denn die einzelnen Sparten für sich waren so klein, dass man kooperieren musste, um etwas auf die Beine zu stellen.

Chemnitz trug den Beinamen "sächsisches Manchester" – inwieweit unterschied sich die Stadt von Kulturzentren wie Dresden oder Weimar?
Dresden war schon immer der Vergangenheit zugewandt: Was war das für eine schöne Stadt, was war das alles fantastisch früher! Und dann noch die gewaltige Wunde der Zerstörung, die das Jammern weiter befördert hat. In Weimar: alles zugedeckt von Schiller und Goethe! Die Stadt ist fertig, die hat ihre glorreiche Vergangenheit, da passiert nichts mehr. Chemnitz war immer eine etwas raue Industriestadt. Und sie ist bis heute nicht fertig. Es gibt keine gigantischen Juwelen, die alles andere überstrahlen, man könnte die Stadt auch heute noch neu erfinden. Durch die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg glich das Zentrum einer Steppe, aber irgendwie hat man das auch geschätzt, weil es Freiräume ermöglichte. Es gab kein Fachwerkhäuschen, kein Barockschlösschen, sondern immer nur zugige Neubauten und zwölfspurige Straßen. Da musste man selbst was machen!

Wie haben Sie die Wendezeit erlebt?
Wie jeder DDR-Bürger: völliger Umbruch, völliger Neubeginn. Große Freude! Aber auch Angst, weil man plötzlich überlegen musste: Kann ich jetzt von meiner Kunst weiter leben? Wie lebt überhaupt ein Künstler in einem kapitalistischen System? Wir hatten ja null Ahnung, wie das geht. Dass es im Westen Künstlerförderungen gab und auch ein Sozialnetz, wussten wir nicht. Ich erinnere mich an eine Diskussion mit DDR-Künstlern in der Roten Fabrik in Zürich zur Frage, was jetzt zu tun ist. Die Schweizer haben uns geraten: Ihr müsst Häuser besetzen, euch die Medien aneignen! Ich dachte: Schön und gut, aber bevor wir die Welt verändern, muss ich erst mal damit klarkommen, dass das Brot jetzt Geld kostet und ich echte Miete zahlen muss. Ich wusste noch nicht mal, was Mehrwertsteuer ist.

Aber für Ihre Band lief es zunächst gut: Im Wendejahr 1990 wurden Sie sogar von der französischen Präsidentengattin Danielle Mitterrand zu einem Auftritt nach Paris eingeladen.
Man hat heute ja fast vergessen, dass Frankreich kein besonderer Freund der Wiedervereinigung war. Daher haben sie schnell noch versucht, die DDR – oder was daraus werden könnte – aufzuwerten. Dazu gehörte auch ein Kulturaustausch. Der Kurator Christoph Tannert wurde beauftragt, ein Programm zusammenzustellen mit Gruppen, die den DDR-Underground in all seinen Facetten repräsentierten. Das war also eine Art französisches Störmanöver, von dem wir profitiert haben. Wir wurden dann eingeflogen nach Paris – beim Hinflug brauchten wir noch ein Visum, für den Rückflug dann schon nicht mehr, das ging ja alles so wahnsinnig schnell damals.

Warum hat sich die AG Geige 1993 aufgelöst?
Wir waren immer Künstler gewesen und hatten in sieben, acht Jahren alles erlebt: Tonträger hergestellt, Konzerte gegeben, Erfolge gefeiert, Niederlagen überstanden. Es war Zeit, was anderes anzugehen. Und jetzt, wo der Kapitalismus herrschte, glaubte jeder von uns, für sich gucken zu müssen, wo er bleibt: Der eine hat in einem Taschenhandel gearbeitet, der andere in einer Werbeagentur, ich hatte die naive Vorstellung, einen Schallplatten-und-Klamotten-Laden aufzumachen. Heute sind wir alle wieder Künstler. Die Jahre dazwischen waren vielleicht ein bisschen unnötig – aber keiner von uns blickt wehmütig zurück.

Olaf Bender, der ab 1989 Teil von AG Geige war, betreibt heute zusammen mit dem Künstler Carsten Nicolai das Label Raster-Noton. Inwieweit ist das Projekt ein Erbe der DDR-Zeit?
Ich sehe die Anknüpfungspunkte der heutigen Szene an die DDR-Zeit vor allem im genreübergreifenden Arbeiten. Wie man es von früher kannte, haben die Chemnitzer keine großen Berührungsängste zu anderen Sparten.

Sie selbst arbeiten seit Ende der Neunziger als bildender Künstler. Ihre Technik ist die Hinterglasmalerei – sehr traditionell im Vergleich zu Ihrer Musik!
Ja, wobei mein Part bei AG Geige ja auch ein eher altmodisches Texterezitieren war. Die Hinterglasmalerei, mit ihrer Bandbreite vom Votivbild bis zur Südseeromantik, kam mir entgegen, auch weil ich immer ein Interesse hatte an der Gratwanderung zwischen Ernsthaftigkeit und Komik.

Eine Ihrer Serien heißt "Aufstieg und Fall des Kommunismus" und zeigt einfaches, aber protzig inszeniertes DDR-Essen. In einer anderen Serie haben Sie sich mit sogenannten Inflationsheiligen beschäftigt.
In den 20er-Jahren waren in Thüringen und Sachsen etliche selbst ernannte Heilsbringer unterwegs. Sie haben vom Weltuntergang gesprochen und den Menschen das Geld für den Bau einer neuen Arche Noah aus den Taschen gezogen. Oder behauptet, sie hätten eine Maschine zur Herstellung von Gold erfunden und brauchten nur noch ein paar Spenden. Das waren Marktschreier, die mit den Ängsten der Menschen gespielt haben – so ganz unterschiedlich ist die Situation auf sächsischen Marktplätzen ja heute nicht.

Neben der Kunst spielt die Musik weiter eine zentrale Rolle in Ihrem Leben: Zum einen sind Sie ein Mitbetreiber des Club Atomino – zum anderen sind Ihre Söhne Till und Felix mit ihrer Band Kraftklub sehr erfolgreich. Was sagen Sie als Elektropionier zur eher poppigen Rockmusik Ihrer Kinder?
Ich find das natürlich toll und bin voll väterlichem Stolz! Im Ernst: Das sind ganz verschiedene Ansätze. Ich stecke in meiner Underground-Ecke und komme da auch nicht raus – während Kraftklub überhaupt keine Berührungsängste mit der Popkultur hat. Lange Zeit gab es dann noch eine Hürde, mit der ich sie aufziehen konnte: „Wir waren als AG Geige mal in der ,Bravo‘ – da wart ihr noch nicht!“ Als sie dann auch in der „Bravo“ waren, habe ich endgültig das Handtuch geworfen. Da war klar: Den Wettkampf brauchen wir nicht weiterzuführen.

Und was sagen die Kinder zu AG Geige?
Was AG Geige betrifft: Da gab es ein Hörverbot zu Hause, jedenfalls in meiner Gegenwart. "Jetzt hört euch doch mal an, was der Papa vor 20 Jahren gemacht hat" – das gab es bei uns nicht, das wäre doch furchtbar! Meine Kinder wussten lange überhaupt nicht, was ich gemacht habe.

Zeilen von Kraftklub wie "Ich will nicht nach Berlin" oder "Ich komm aus Karl-Marx-Stadt" wurden als Feier der ostdeutschen Provinz verstanden. Leben Ihre Söhne noch hier?
Ja, die leben noch hier. Und besonders freut mich, dass sie in der Stadt auch sehr aktiv sind und 2013 das Kosmonaut-Musikfestival gegründet haben. Die hätten das ja in jeder anderen Stadt machen können, aber haben sich schon bewusst für Chemnitz entschieden. Früher gab es in Chemnitz das Hip-Hop-Festival Splash, auf das sie immer gegangen sind. Die Stadt hat damals aber die Bedeutung verpennt und es ziehen lassen. Der Ehrgeiz meiner Söhne war es, mit Kosmonaut ein Festival zu etablieren, so wie sie es als Jugendliche selbst erlebt hatten. Ich glaube, das haben sie geschafft.

Jan Kummer wird vertreten von der Galerie Borssenanger, Chemnitz. Die Dokumentation "AG Geige – ein Amateurfilm" von Carsten Gebhardt ist erhältlich über die Seite www. raster-noton.net, Preis: 20 Euro