Ein junger südkoreanischer Soldat steht im flachen Gewässer am Rande eines Sees. Er blickt direkt in die Kamera von Fotograf Heinkuhn Oh. Sein Körper steht unter militärischer Spannung. Mit den Daumen drückt er fest auf seine Zeigefinger. Dass seine Schuhe durchnässt sind, scheint ihn nicht zu stören. Die Augenringe, die seine feuchten Augen untermalen, scheinen jedoch auf Müdigkeit, Entbehrungen und das persönliche Fragezeichen hinter der Sinnhaftigkeit seiner Aufgabe zu verweisen. Wie die vielen anderen Berufssoldaten und Wehrpflichtigen muss er nicht weniger als Südkoreas Sicherheit und Existenz verteidigen. 50 Kilometer von der Hauptstadt Seoul entfernt befindet sich die Grenze zum kommunistischen Nordkorea: die Demilitarisierte Zone (DMZ). Die beiden Staaten sind aus völkerrechtlicher Perspektive noch immer im Krieg. Ein Friedensvertrag wurde nie unterzeichnet. Jederzeit könnte sich der Konflikt wieder zuspitzen.
Heinkuhn Ohs Fotografie ist eines von 35 Werken, die aktuell in der Ausstellung "Checkpoint: Grenzblicke aus Korea" im Kunstmuseum Wolfsburg zu sehen sind. Die meisten von ihnen erzählen Geschichten von Menschen, die auf völlig verschiedene Weisen von der Teilung Koreas betroffen sind. So entsteht eine unvollendete Sammlung von Symptomen der Trennung, die sich mithilfe des forschungsbasierten "Real DMZ Projects", das den Grundstein für die Ausstellung bildet, stets erweitern.
Dabei wird ersichtlich, wie unterschiedlich die Folgen dieser Grenzerfahrung sind. Manche von ihnen müssen ihr altes Leben und ihre Liebsten zurücklassen und ihr Leben riskieren, wie der Soldat auf Heinkuhn Ohs Foto. Andere leiden unter Schmuggel und illegaler Arbeit in der Grenzregion. Wieder andere erfreuen sich an grenzüberschreitenden Musikerfahrungen. Und mache existieren gar nicht, sind erwachsen aus der utopischen Zukunftsillusion einer Wiedervereinigung.
Eines haben all diese Menschen gemeinsamen, deren Geschichte durch die Malereien, Skulpturen, Installationen, Fotografien und Videos erzählt wird, die das Team um Kuratorin Sunjung Kim zusammengestellt hat: Die Teilung des Landes reißt auch seine Bewohner entzwei. Die politisch sowie kulturell komplexe Situation auf der Koreanischen Halbinsel fordert Opfer von allen, die in dem Land leben. Raum für Hoffnung bleibt dabei nur in der Kunst – immerhin.
Einheit trotz Trennung
Um sich den in der Ausstellungen gezeigten Lebenswelten anzunähern, lohnt ein Blick in die Geschichte des kulturellen und geografischen Raumes, in dem sie sich befinden. Korea ist nach wie vor ein Land. Im Jahr 2333 vor Christus soll es erstmals einen Zentralstaat auf der Koreanischen Halbinsel gegeben haben. Über viele Jahrhunderte hinweg hat sich eine homogene koreanische Kultur gebildet. Bis heute teilen sich die Bewohner Koreas eine lange Geschichte, unzählige Traditionen, eine Sprache sowie ein Alphabet. Dass Korea schließlich in zwei Staaten geteilt wurde, geschah völlig unverschuldet. Als erste Opfer des japanischen Kolonialismus mussten Koreanerinnen und Koreaner unvorstellbare Gräueltaten über sich ergehen lassen. Die als "Trostfrauen" missbrauchten Zangsprostitutierten, von denen viele diese Zeit nicht überlebten, sind nur ein Beispiel dafür. Auf diese harten Jahre folgte die Teilung. Südkorea entwickelte sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer der wirtschaftlich erfolgreichsten Demokratien, Nordkorea zu einem der restriktivsten Staaten weltweit.
Allen Unterschieden und militärischen Drohungen zum Trotz ist die soziale Teilung nicht abschließend gelungen. Umfragen zeigen, dass viele Südkoreanerinnen und Südkoreaner noch immer Sympathie und Verbundenheit gegenüber ihren Nachbarn im Norden empfinden. Nordkoreanische Überläufer erhalten große Unterstützung, viele von ihnen wurden zu prominenten Stimmen, die vom Leben auf der anderen Seite der Grenze berichten. Der südkoreanische Staat leistet finanzielle und humanitäre Hilfe. Insbesondere im Süden ist der Wunsch nach einer Wiedervereinigung verbreitet: Traditionell erklimmen viele Menschen den Berg Seoraksan, um das koreanische Wort für Wiedervereinigung, "tongil", in Richtung der Grenze zu rufen. Auch in Nordkorea ist der Süden zumindest nicht so fern, wie es die Regierung um Kim Jong-un gerne hätte. So ist beispielsweise der illegale Vertrieb südkoreanischer Waren und Kulturerzeugnisse auf nordkoreanischen Märkten, Jangmadang genannt, weit verbreitet.
Geteiltes Leid
Bei der Betrachtung der Werke finden sich konkrete visuell-emotionale Antworten auf diese historischen Hintergründe. So widmet sich der Film "Early Arrival of Future" von Sojung Juns der beschriebenen kulturellen Nähe zwischen Nord und Süd. Dieser zeigt zwei Menschen, die aus verschiedenen Welten kommen. Gleichzeitig ist der musikalische Schatz, mit dem sie aufwuchsen, der gleiche. Der nordkoreanischen Überläufer und Pianist Cheol-woong Kim sowie die südkoreanische Pianistin Eun-kyung Uhm sitzen in dem Film vor ihren Instrumenten und sprechen über koreanische Volksmusik. Diese ist eine der gemeinsamen Sprachen Nord- und Südkoreas. So teilen sich beide Staaten beispielsweise ihr liebstes Volkslied "Arirang", das etwa bei gesamtkoreanischen Verantaltungen als Ersatz für eine gemeinsame Nationalhymne verwendet wird. Die beiden Musiker lassen ihre Erfahrungswelten bis in die Kindheit Revue passieren – immer auf der Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Am Ende des Prozesses steht ein Auftritt: Ihr gemeinsames Stück "Sinabro" ist eine Variation traditioneller koreanischer Volkslieder. Den Kuratoren der Ausstellung zufolge, kann das harmonische Arrangement "als Metapher für die ersehnte Harmonie zwischen Nord- und Südkorea" verstanden werden.
Ein weiterer Verbindungspunkt: Nord- und Südkorea teilen sich neben Stücken der Volksmusik geographisch bedingt auch die klimatischen Bedingungen – und damit die selbe Welt der Flora und Fauna. Von dieser Tatsache ausgehend hat sich Jeewi Lee mit der Naturwelt beschäftigt, die für Menschen vor und nach der Teilung die gleiche war und ist. Für ihre Arbeit "Inzision" sammelte die Künstlerin Abdrücke von fünf Bäumen aus dem südkoreanischen Grenzgebiet. Mithilfe der sogenannten Takbon-Drucktechnik verewigte Lee die natürlichen Muster der Baumstämme auf koreanischem Hanji-Papier. Viele Menschen, die die Bäume vor der Teilung bewundert hatten, bekamen sie nie wieder zu Gesicht: Die Bäume existierten bereits vor der Teilung Koreas im Jahr 1945. Gleichzeitig stehen ähnliche Bäume auf der anderen Seite der Grenze. So ist die Künstlerin überzeugt, dass sie Zeitzeugen seien, die mahnend an den Koreakrieg und die Aufspaltung des Landes erinnern.
Leider gibt es sehr viele Punkte, in denen sich Nord- und Süd grundlegend unterscheiden. Während es in Südkorea eine gute Arbeitssituation, Gleichheit und Demokratie gibt, ist die Menschenrechtssituationen in Nordkorea verheerend. Das verdeutlicht die Arbeit von Künstlerin Kyungah Ham. Hinter der großformatigen, detailreichen Stickerei, die zu den eindrucksvollsten Werken der Ausstellung gehört, versteckt sich eine traurige Geschichte. Die Künstlerin ließ diese nämlich von nordkoreanischen Näherinnen anfertigen, mit denen Ham über Mittelsmänner Kontakt aufnahm. Sie arbeiteten heimlich über einen Zeitraum mehrerer Jahre an den einzelnen Werken. Auf ihnen sind unter anderem Kronleuchter vor schwarzem Hintergrund zu sehen. Die Fäden sind zu einem kometengleichen Schauer aus goldenem Regen versponnen, der sich zu scharfkantigen Objekten formt. Trotz der Schönheit der Objekte ist das Leid, das sie erzeugt haben, jedoch groß: Zensur, Angst und Schmuggel gehörten unweigerlich zum Arbeitsprozess dazu. Die Divergenz, die sich bei der Betrachtung ergibt, hinterlässt ein starkes Misstrauen gegenüber dem Schönen.
Das Dazwischen
Besonders kompliziert ist die Situation der Teilung in der Mitte zwischen den beiden Staaten: Die DMZ, die Nord und Süd teilt, ist für die Bewohnerinnen und Bewohner außerhalb dieser Zone eine mahnende Leerstelle, die Frieden sichern soll. Es gibt jedoch auch Menschen, die im unmittelbaren Vorbereich dieser Zone leben. 112 Dörfer liegen in der "Civilian Control Line", einer Pufferzone der DMZ. Seit der Teilung Koreas leiden ihre Bewohnerinnen und Bewohner darunter, im Dazwischen zu leben, wie der Film "El momento más hermoso de la guerra" (Der schönste Moment des Krieges) des Künstler Adrián Villar Rojas aus dem Jahr 2014 verdeutlicht. Er besuchte das kleine Dorf Yangji-ri inmitten der besagten Zone. Es stand nach dem Jahr 1945 unter kommunistischer Führung. Nach dem Waffenstillstandsabkommen 1953 wurde es Teil von Südkorea. Villar Rojas wagte ein filmisch-theatralisches Experiment, zu dem er Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes einlud. Sie wurden zu Schauspielerinnen und Schauspielern, das gesamte Dorf zur Kulisse. In dem Film lösen sich die Grenzen zwischen Realität und Fiktion weitgehend auf, was die unwirkliche Situation verdeutlicht, in der sich das Dorf seit vielen Jahren befindet. Chan Sook Choi war ebenfalls in vielen weiteren Dörfern der "Civilian Control Line" unterwegs. Ihre Videoinstallation "60 Ho" beleuchtet persönliche Erzählungen von Frauen, die in diesen leben.
Auch andere Künstlerinnen und Künstler beschäftigen sich mit dem Schrecken dieses Landstrichs. In Jane Jin Kaisens Videoarbeit "Sweeping the Forest Floor" ist ein Minendetektor zu sehen, der die Pufferzone kurz vor der DMZ nach Landminen absucht. Allein das südkoreanische Militär und US-Truppen sollen dort zwischen 1,1 und 1,2 Millionen Landminen hinterlassen haben. Lee Buls (*1964) Skulptur "Aubade V" besteht unter anderem aus den stählernen Überresten eines abgerissenen Wachpostens der DMZ.
Hoffnung auf ein Wiedersehen
Über all den Werken der Ausstellung steht die Frage nach dem Warum – und die Hoffnung auf eine Zeit, in der die Schrecken der Trennung überwunden sein werden. Insbesondere der Künstler Mischa Leinkauf verdeutlicht die Sinnlosigkeit und Konstruiertheit der Teilung, indem er für seine Zweikanal-Videoarbeit "Northern Limit Line (North Korea, South Korea)" das Grenzgebiet zwischen den beiden Staaten mit einer Drohne überquerte. Damit überschritt er mühelos eines der bestbewachten Gebiete der Welt: ein beinahe aktivistischer Akt, der den Akteuren, die eine Wiedervereinigung verhindert haben und noch immer verhindern, hämisch ins Gesicht lacht.
Bei all den Werken, die realen Probleme und tiefe Gräben aufzeigen, weiß die Kuratorin Sunjung Kim jedoch: In der Vergangenheit wurden oft auch scheinbar ausweglose Situationen gelöst. Auch Deutschland war einst ein geteiltes Land. So traf sie sich die Entscheidung, auch bunte Utopien über die graue Gegenwart zu zeichnen. Noch vorsichtig geht Minouk Lim vor. Sie nutzt reale Geschichten, um sie zur exemplarischen Vorlage für eine bessere Zukunft zu machen. Ihr Film "It’s a Name I Gave Myself" zeigt sie die Wiedervereinigung voneinander getrennter Familienmitglieder, die sich in jungen Jahren aus den Augen verloren haben. Tobias Rehberger entzündet derweil ein optimistisches Feuerwerk, das die Besucherinnen und Besucher an ein besseres Morgen glauben lässt. Das von ihm konzipierte "Duplex House" projiziert ebenfalls das Bild einer Wiedervereinigung – aber meint diesmal explizit die beiden koreanischen Staaten. Im obersten Stock des Hauses entwirft er eine Zukunftsvision, in der das Land friedlich wiedervereint ist.
Zum Glück gibt es sie, die Werke, die sich einer möglichen Wiedervereinigung widmen und die Hoffnung nicht aufgeben, dass auch in Korea irgendwann zusammen wächst, was zusammen gehört. Laut spricht aus ihnen die Botschaft, die über all dem Gezeigten schwebt: So, wie die Teilung die Menschen in Korea zerreißt, würde eine mögliche Wiedervereinigung ihre Heilung bringen. Den Menschen in Südkorea brächte eine geeinte Zukunft Sicherheit, den Nordkoreanerinnen und Nordkoreanern nicht weniger als das Ende der Repression und ein Leben in Freiheit.