Warum hält jemand das Tageslicht aus seinen Wohn- und Arbeitsräumen heraus? Verhängt die Fenster aller Räume, bis auf die Küche, mit dunklen Umhängen und schwärzt die Wände mit Wachs? Der Blick auf die Alpen habe sie von ihrer Arbeit abgehalten, begründete Carol Rama einmal die Verwandlung ihrer Dachgeschosswohnung in der bürgerlichen Via Napione in eine "Höhle" der Kreativität und zugleich der Angst.
Hinter der Art-déco-Fassade, nur einen Steinwurf vom Fluss Po entfernt, hatte die 2015 verstorbene Künstlerin sich Anfang der 1940er-Jahre eine eigene Welt aufgebaut. Kurze Zeit später löste ihre erste Einzelausstellung einen Skandal aus – noch vor der Eröffnung wurde sie von der Polizei geschlossen und die Werke beschlagnahmt. Zu viele Körper, zu viel Sex. Spätere Arbeiten Ramas setzten sich mit ihrer eigenen Biografie auseinander, mit der psychischen Erkrankung der Mutter und ihrem Klinikaufenthalt, mit dem Bankrott des Unternehmens ihres Vaters und dessen Selbstmord. Eine dunkle Familiengeschichte, die auch in der Wohnung zu spüren ist. Gleich zwei Couchbetten stehen dort, die an Sigmund Freuds Therapiemöbel erinnern.
Rama blieb 70 Jahre an diesem sonderbaren Ort, einer Mischung aus Atelier, Büro, Selbstporträt und ihrem Ballsaal, wo regelmäßig Prominenz vorbeischaute und in den 1970ern zu Musik der Rolling Stones und anderer junger Wilder – die zentral drapierte Plattensammlung legt Zeugnis davon ab – das Tanzbein schwang. An den Wänden, selbst in der Küche, lässt sich das Netzwerk auf Fotografien studieren, in dem sich die Exzentrikerin bewegte: Andy Warhol, Marcel Duchamp, Man Ray, Pier Paolo Pasolini, Liza Minelli oder Meret Oppenheim, mit ihnen allen lichtete sich die Autodidaktin ab und umgab sich mit den Aufnahmen wie mit Beweisstücken ihrer Bedeutung als Künstlerin. Denn die Anerkennung kam spät, sehr spät.
Abgetrennte Gliedmaßen und Fahrradschläuche
Als Rama 2003 einen Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk auf der Biennale von Venedig erhielt, war sie bereits 85 Jahre alt und wütend. Den Preis hätte sie fast weggeschmissen. Heute steht er wie beiläufig abgestellt in ihrem Schlafzimmer auf einem Tisch. Nichts ist seit ihrem Tod in den vier Räumen verändert worden. Die letzten Jahre ihres Lebens wurde sie gepflegt von schnell wechselnden Helferinnen. Nur eine Mexikanerin konnte über den schwierigen Charakter triumphieren und wurde dafür mit einem Porträt belohnt, mit Bartstoppeln und groteskem Grinsen.
Manchmal meint man in den finsteren Korridorfluchten Ramas blonde Zopfkrone zu erblicken. Stattdessen sieht man dann aber das Loch in der Wand, das sie selbst verursacht hat, indem sie immer wieder mit einem Ball auf die gleiche Stelle einschlug – der Nachbar unten kann sich immer noch an den Lärm erinnern.
Ihre Anhänger, und die kommen inzwischen vor allem aus dem Ausland, können ihr mit Spraydosen, unzähligen Lampen, Keramik, impotenten Fahrradschläuchen, Ausstellungsplakaten, Schuhen, Parfümflaschen, Puppenaugen und Werken befreundeter Künstler vollgestopftes Refugium seit 2019 besichtigen. Es gibt auch Zeichnungen und Gemälde von abgetrennten Gliedmaßen zu sehen, grausame Szenarien ganz in der Tradition surrealistischer Gewaltexzesse.
Über den Tod hinaus
Die Fondazione Sardi per l’Arte erwarb all diese magisch aufgeladenen Objekte von Ramas Erben und schenkte sie dem Verein Archivio Carol Rama. Dieser verwaltet die nationale Schatztruhe und bietet exklusive Führungen an, mit maximal vier Personen für 40 Euro. Das Archiv hat auch einen Catalogue raisoné erstellt, der im April erscheinen soll.
Und wenn man schon den Weg gefunden hat in die Gemächer dieser Löwin "mit den vielen Gesichtern", wie Man Ray über die Freundin sagte, kann man auch gleich schräg gegenüber in der Casa Carlo Mollino vorbeischauen. Selbstverständlich mit vorher beim Leiter Fulvio Ferrari ausgemachten Besuchstermin - auch er ein Exzentriker, dem man Stunden zuhören könnte. Obwohl Mollino gut mit Rama befreundet war, wusste sie nichts von der Existenz seiner geheimgehaltenen und bis ins kleinste Detail durchgestylten Luxusabsteige, nur einem von mehreren Apartments in Turin.
Sie erfuhr von ihr erst nach seinem Tod und war wahrscheinlich nicht froh darüber, dass sie mit diesem Privatmuseum in unmittelbarsten Nähe Konkurrenz bekommen hatte. Zwei Egomanen, die ihre Legenden bis über den Tod hinaus im Griff behielten und vielleicht in manch einer Nacht als Geister in ihren Höhlen immer noch eine Party schmeißen.