Bilder vom Krieg. Wir sehen sie jetzt jeden Tag. Das zerbombte Mariupol, Raketeneinschläge in Kiew, Menschen, die vor den Explosionen in U-Bahntunneln Schutz suchen, Massengräber in Butscha. "Bellum", die Ausstellung des Fotografen Carlo Valsecchi in der Collezione Maramotti im Rahmen des Festivals Fotografia Europea 022 in der norditalienische Provinzhauptstadt Reggio Emilia, scheint also höchst aktuell.
Doch der Fotograf zeigt keine Bilder vom Krieg. Obwohl alle seine Aufnahmen vom Krieg handeln, die Fotos von den mit schwarzbraunen Baumstümpfen punktierten Schneefeldern, den im Winterdunst kaum sichtbaren Weidezäunen oder der gefrorenen Wasserlache. Die Aufnahmen aus den Jahren 2020 und 2021 handeln allerdings auch von einem Krieg, der vor über 100 Jahren geführt wurde.
Carlo Valsecchi zeigt Landschaften und Hinterlassenschaften dort, wo sich zwischen 1915 und 1918 die österreichisch-ungarischen Truppen einerseits und die italienische Armee andererseits in einem der blutigsten Stellungskriege des Ersten Weltkriegs gegenüber standen. Die Front verlief über mehr als 600 Kilometer und Tausende von Höhenmetern von der Italienisch-Schweizerisch-Österreichischen Grenze im Westen über die Dolomiten hinweg bis zu den Julischen Alpen im Osten, wo der Isonzo entspringt. Die zwölf Schlachten entlang seinem Tal führten zu über einer Million getöteter, verwundeter und vermisster Soldaten.
Empfindung großer Stille
Der erste Eindruck beim Betrachten der großformatigen, leicht überbelichteten Farbfotografien ist die Empfindung großer Stille. Das Gefühl, in gleißend weißer Kälte zu versinken. Schockartig wird klar: Das war die Empfindung der Soldaten, die damals kämpften. Carlo Valsecchi spricht denn auch vom phänomenologischen Erinnern in seinen Bildern. In Italien wird dem Krieg in den Alpen als Guerra Bianca gedacht.
Valsecchis atmosphärische Rekonstruktion des kriegerischen Geschehens resultiert in Bilder, die dieses Erinnern erst bei genauem Studium preisgeben. Zunächst fallen jene großen Formate ins Auge, die vermeintlich nur weiße Leere zeigen. Mit dem sie umgebenden, dünnen schwarzen Negativrand lassen sie an die blendend weißen Leinwände der alten Kinos in Hiroshi Sugimotos "Theatres"-Serie denken. Wie in Sugimotos Langzeitbelichtungen hat die Zeit auch bei Carlo Valsecchi die Aktion verschluckt. Langsam immerhin werden marginale Details deutlich etwa bei "#01128 Gallio, Vicenza, IT. 2021" der Zaun der Weidefläche, dessen Material aus dem Stacheldrahtverhau der Schützengräben stammt.
Viele Bilder zeigen ein Allover, das sie in die Abstraktion überführt. "#01145 Fogliano di Redipuglia, Gorlizia, IT.2021" wirkt wie ein schwarzweißes Jackson-Pollock-Gemälde. Erkennt man aber erst im Gewirr der Linien einen scharfkantigen Fensterausschnitt, bemerkt man gleichzeitig das Buschwerk, an das der Fotograf seine große Plattenkamera ganz nahe gerückt hat, woher die Vorstellung des Drahtverhaus wie des drip paintings stammt.
In mir ein unbesiegbaren Sommer
Die Kamera selbst thematisiert die Aufnahme "#01154 Asiago, Vicenza, IT. 2020", die das schwarze Innere einer Baracke in den Verteidigungsanlagen zeigt. Nur spärlich vom Licht erhellt, das durch die Ritzen fällt, erkennt man sie als Camera Obscura, in die mit dem Licht auch das Bild der Außenwelt einfällt. Nicht zufällig ist der Verschlag ein Nachbau, erstellt für die Dreharbeiten von Ermanno Olmis letztem Film "Torneranno i prati" (Blumen werden wieder darüber wachsen) von 2014.
Denn hinterlassen nicht die Bilder vom Krieg oft genug den größten Eindruck, die historisch-rekonstruktiv für die Kino-Leinwand neu geschaffen wurden? Wir erinnern dann die abgebildeten Objekte vielleicht nicht so genau, umso mehr aber die Stimmung. Und so kann die Verwüstung als der Sturm Vaia zwischen dem 26. und 30. Oktober 2018 in den italienischen Alpen ganze Wälder niederlegte, wahrlich ein Kriegsgemälde evozieren wie es Valsecchi im Tableau "#01147 Grigno, Trento, IT, 2020" festhält. Für einen Moment nämlich erkennt man gefallene Soldaten in den von fahlgelbem Gras überwachsenen Baumstrünken, entdeckt ein Schlachtfeld wie man es von Gemälden und Filmbildern der napoleonischen Feldzüge erinnert.
Kein Soldat an dieser Front konnte das Motto kennen, das sich das Fotografia Europea Festival für seine 17. Ausgabe von Albert Camus entlieh, aber sicher wusste der eine oder andere was der Autor meinte, als er sagte "inmitten des tiefsten Winters habe ich erfahren, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt". Die Menschenmenge, die das Festival und seine über die ganze Stadt verstreuten Ausstellungen am Eröffnungswochende am 1. Mai besuchte, sprach denn auch Bände, was Resilienz, was die Hoffnung auf den Sommer und auf die im Freien wiedergewonnene Bewegungs- und Begegnungsfreiheit angeht.
Fragen an das Medium und seine Vermittlung
Das Programm überzeugt mit international bekannt Positionen wie Mary Ellen Mark ("The Lives of Women") oder Luigi Ghirris Fotografien aus dem 1970 von Ivo Rimbaldi geschaffene "Italia in Miniatura"-Themenpark in Viserbe ("In scala diversa"). Es überraschte aber auch mit stark konzeptuellen Arbeiten wie der Serie "Binidittu". In ihr führt Nicola Lo Calzo die Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Migration anhand des in Süditalien noch immer lebendigen Kults um Benedetto Manasseri, in der Hagiographie als "Benedikt der Mohr" bezeichnet. Auch Jonas Bendiksens Experiment mit digitaler Fälschung für "Das Buch von Veles" stellt anspruchsvolle Fragen an das Medium und seine Vermittlung. Die nordmazedonische Stadt Veles wurde 2016 als eines der internationalen Zentren zur Verbreitung von Fake-News bekannt.
Das Festival-Motto steht aber, wenn auch unbeabsichtigt, vor allem für jene Errungenschaft, die Reggio Emilia international berühmt gemacht hat: die seit Ende des Zweiten Weltkriegs praktizierte Vorschulpädagogik. Die Erziehungsphilosophie der sogenannten Reggio-Pädagogik setzt ganz auf den unbesiegbaren Sommer im Kind als Konstrukteur seiner eigenen Entwicklung, seines Wissens und Könnens. Achille Maramotti (1927-2005), Jurist und Bankier mit Unternehmungsgeist, schöpfte zwar noch nicht aus dieser Quelle. Dass sein Anfang der 1960er-Jahre eher ungewöhnliches Interesse für zeitgenössische Kunst den Gründer des Modelabels Max Mara zum Sammeln verleitete, deutet aber auf ein förderliches Umfeld hin.
Mit Frühwerken von Pietro Manzoni, Jannis Kounellis, der Arte Povera von Alighiero Boetti oder Giovanni Anselmo oder der transavanguardia mit Sandro Chia, Mimmo Paladino oder Enzo Cuchi legte Achille Maramotti den Grundstock der heute nach ihm benannten Sammlung, die in den ehemaligen Werkshallen von Max Mara zu Hause ist. Die Familie pflegt das Engagement für Kunst weiter, mit aktuellen Ausstellungen in den Galerieräumen der Sammlung wie jetzt "Bellum" von Carlo Valsecchi. Darüber hinaus lobt sie seit 2006 in Zusammenarbeit mit der Londoner Whitechapel Gallery alle zwei Jahre der Max Mara Kunstpreis für Frauen aus. Der Preis beinhaltet einen sechsmonatigen Aufenthalt in Italien. Das hier entstandene Kunstprojekt wird in der Whitechapel Gallery und in den eigenen Räumen ausgestellt.