Debatte um "Cancel Culture"

Nehmt die Kritik des Publikums ernst!

In der Diskussion um die sogenannte "Cancel Culture" heißt es immer wieder, im Netz sei ein rachsüchtiger Mob unterwegs, der Lebenswerke zerstört. Sollte man nicht davon ausgehen, dass auch auf Social Media berechtigte Kritik geäußert wird? 

Bisher habe ich immer einen großen Bogen um "Cancel-Culture"-Debatten gemacht. Und dann habe ich doch eine Einladung zu einem kleinen Panel zum Thema angenommen. Als ich zu Hause vor meinem Laptop saß – es war natürlich ein Zoom-Event –, erinnerte ich mich daran, warum ich genau diese Debatte bisher gemieden habe. Vermutlich könnte man produktivere Gespräche mit einer Wand führen. Der Titel des Gesprächs war "Der Kulturkampf erreicht Verlage und Archive", eingeladen hatte die Zeitschrift "Photonews".

Die Grundlage des Gesprächs war ein Kommentar zum Thema von Ulf Erdmann Ziegler, der in der aktuellen Ausgabe von "Photonews" abgedruckt ist. Ziegler befasst sich in seinem Text mit zwei Fällen aus der Fotoszene, einer davon betrifft den britischen Fotografen Martin Parr. Er ist kürzlich von seinem Posten als Direktor des Bristol Photo Festival zurückgetreten, nachdem er sich als Herausgeber des Buchs "London" von Gian Butturini mit Rassismus-Vorwürfen konfrontiert sah. Natürlich ist es richtig und wichtig, sich im Detail mit Vorwürfen und Anschuldigen zu befassen und jeden Fall genau zu betrachten. Denn wie Ziegler auch in der Diskussion sagte, nicht selten werden Lebenswerke zerstört. Doch auch umgekehrt muss man differenzieren.

Vielleicht redet man einfach mal anders oder überhaupt miteinander und lässt den Gedanken zu, dass auch in den sozialen Medien wie Twitter berechtigt und fundiert Kritik formuliert wird. In seinem Text für "Photonews" schreibt Ziegler über "die Communities der Blogger und Twitterer, die Bilderverbote – auch verbale Verbote – einfordern". Und weiter: "Sie wollen andere einschüchtern, und das gelingt auch." 

Kann jeder und jede das Bildhafte zerstören?

An anderer Stelle heißt es: "Es braucht keine kulturelle Qualifikation, um ein Bild oder das Bildhafte zu zerstören. Das kann jeder und jede." Helmut Mauró schreibt in seinem viel diskutierten Beitrag über den Pianisten Igor Levit in der "SZ" ebenfalls über das "Sofa-Richtertum" auf Twitter. Da wird rigoros von der Hand gewiesen, dass Menschen im Internet einen klaren Gedanken fassen können. Oder Gutes im Sinn haben. Oder mit gutem Grund auf ein Problem hinweisen. Dabei ist es keineswegs so, dass nur irgendjemand etwas twittern muss und schon ist eine Karriere beendet.

Früher konnten noch Texte von Kunstkritiker*innen in großen Zeitungen über Karrieren von Künstler*innen entscheiden. Der Galerist Judy Lybke erinnert sich im Gespräch mit Thomas Bille im Podcast vom SWR daran, wie Roberta Smith, die bekannte Kunstkritikerin der "New York Times", in den 90er-Jahren auf der Messe Armory geschockt und wie vom Blitz getroffen vor einem Bild von Neo Rauch stehen geblieben ist. Es war die einzige figürliche Malerei auf der Messe, Malerei war damals nicht mehr angesagt. Am nächsten Tag war eine ganze Seite über das Gemälde von Rauch in der "New York Times", weil Smith es nicht mehr ausgehalten hatte, wie sich Lybke erinnert, stundenlang Videos anschauen zu müssen, um eine Kritik schreiben zu können.

Maurizio Cattelans Werk "Comedian" auf der Art Basel/Miami Beach letztes Jahre wäre nicht mehr als eine mit Panzertape an eine Wand geklebte Banane gewesen, wenn nicht das Publikum vor Ort und besonders im Internet – und klar, auch die Medien – mitgemacht und wie wild berichtet und gepostet hätten. Die Galerie Perrotin hatte der Banane sogar einen eigenen Instagram-Account eingerichtet, auf der die weltweiten Reaktionen in Form von Memes etc. gesammelt wurden. "Sie machten schließlich die ganze Arbeit und verhalfen Cattelan zu diesem Coup", schrieb Daniel Völzke für Monopol. Und Hans Neuendorf, ehemaliger Galerist und Mitbegründer der Art Cologne, sagt aktuell im Podcast von Johann König: "Ich glaube, dass die Qualität nicht mehr so entscheidend ist wie früher. Es gibt zum Beispiel keine Kunstkritik mehr. Sie wird nicht mehr benötigt. Heute gibt es Mehrheitsentscheidungen und die werden uns bekannt durch Preise."

Aus einer Mehrheitsentscheidung wird der wütende Mob

Die Mehrheitsentscheidungen sind, was zu Irritationen führt. Und aus dieser Mehrheit wird dann in Diskussionen um die so genannte "Cancel Culture" sofort der wütende, rachsüchtige Mob im Internet, der nur auf Zerstörung aus ist. Selbstverständlich, es gibt Debatten, die aus dem Ruder laufen und in der Sache falsch sind. Der Fall Jon Rafman aber hat kürzlich gezeigt, wie ein verantwortungsloser und ein verantwortungsvoller Umgang mit Vorwürfen, die in den sozialen Medien geäußert und rasend schnell verbreitet werden, aussehen kann.

Rafman wurde vorgeworfen, vor Jahren Frauen emotional und sexuell missbraucht zu haben. Auf dem Instagram-Account @surviving_the_artworld teilten Frauen ihre Erfahrungen mit dem Star der Post-Internet Art, der aus einer Machtposition heraus gehandelt habe. In den USA und Kanada, der Heimat von Rafman, wurden sofort Ausstellungen abgesagt und geschlossen, seine Galerie beendete die Zusammenarbeit. In Deutschland hätte Anfang September seine Einzelausstellung im Kunstverein Hannover eröffnet werden sollen. Die Ausstellung wurde nicht abgesagt, sondern verschoben, bis die Vorwürfe geklärt sind. Auch die Galerie Sprüth Magers wollte die Vorwürfe prüfen und erst dann eine Entscheidung treffen. Das "diffuse Weltgericht" (Mauró) mit Sitz im Internet kommt allein nicht weit, die Entscheidung liegt bei den Institutionen oder Betroffenen.

Martin Parr hat selbst die Entscheidung getroffen, von seinem Posten als Direktor zurückzutreten. Der Skatepark Pier15 hat kürzlich entschieden, dass die Arbeit "Destroy my Face" von Erik Kessels entfernt wird, nachdem in den sozialen Medien massiv Kritik an den frauenfeindlichen Position geäußert wurde. Der niederländische Künstler hat 800 Fotos von Frauen und Männern im Internet gesammelt, die sich Schönheitsoperationen unterzogen haben. Mit den Bildern hat er eine Künstliche Intelligenz trainiert, so dass es jetzt 60 Porträts von nicht real existierenden Personen gibt, die im riesigen Format auf den Boden des Skateparks geklebt wurden.

Die Besucher*innen sollten mit den Gesichtern interagieren, steht auf der Website des BredaPhoto Festival, in dessen Rahmen die Arbeit gezeigt wurde: "So einfach, wie sie einst schön gemacht wurden, so einfach werden sie jetzt zerstört. (...) Die Bilder von Gesichtern aus der plastischen Chirurgie in der Installation werden langsam von den Skateboardfahrern, die auf ihnen fahren, zerstört werden." Nachdem sich Tausende von Frauen im Internet zu Wort gemeldet hatten und ein offener Brief verfasst wurde, äußerte sich Kessels zu den Vorwürfen. Er betonte, dass er nicht zu Gewalt gegen Frauen ermutigen wolle. Ihm gehe es um Selbstakzeptanz.

"Man soll doch bitte nicht so beleidigt sein"

Das Feedback von Tausenden Frauen, dass es sich um einen misogynen und gewaltsamen Akt handelt, wenn junge Männer dazu aufgefordert werden, die Gesichter von Frauen zu zerstören – und sei es nur auf Bildern –, hat ihn nicht weiter interessiert. Nachdem schließlich der Skatepark die Entscheidung getroffen hatte, die Arbeit zu entfernen, folgte ein Statement des Festivals: Man bedauerte die Entscheidung. Und man war sich sicher, dass der Skatepark unter dem Druck von Sponsoren und der Öffentlichkeit eingeknickt ist. Der Druck mag ein Grund gewesen sein. Vielleicht hat der Skatepark im Gegensatz zum Festival und zum Künstler einfach verstanden, dass es sich um eine frauenfeindliche Arbeit handelt, auch wenn das vom Künstler so nicht gemeint gewesen sein mag.

Was sich hier und wie so oft zeigt: Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft sagen den Betroffenen, die Teil einer Minderheit oder einer benachteiligten Gruppe sind, dass doch nicht schlimm ist, was als falsch oder schlimm empfunden wird. Darauf hat auch der Fotokritiker Jörg Colberg im Rahmen des "Photonews"-Panels hingewiesen. Man solle doch bitte nicht so beleidigt sein, heißt es dann. Oder: Aber die Kunstfreiheit!!! Und: Ja, Kunst, nein, Kunst, die muss doch wohl noch provozieren dürfen! Ja, natürlich, aber bitte klug und nicht aus einer unterinformierten Position heraus.

Der Magnum-Fotograf Alec Soth hat gerade vorgemacht, wie man mit einem Shitstorm umgeht. Wie man zuhört. Und wie man Kritik annimmt. Anfang Mai wurde er von der "New York Times" beauftragt, einen Fotoessay zu einer Serie über Ungleichheit in den USA beizusteuern. Den Auftrag hat er angenommen. Nachdem die in Chicago entstandenen Bilder erschienen waren, wurde ihm vorgeworfen, er habe das Projekt "Folded Map" der schwarzen Fotografin Tonika Lewis Johnson kopiert. Soth kannte ihre Arbeit nicht. Auf Instagram hat er die Vorgänge vom Beginn der Beauftragung an ausführlich geschildert und erklärt, was vorgefallen ist. Außerdem hat er sich bei Johnson entschuldigt, die selbst das Posting von Soth bei sich auf Instagram geteilt und seine Entschuldigung angenommen hat. Soth hat auf die zahlreichen Kommentare auf Instagram reagiert und unter anderem geschrieben: "Viele Menschen arbeiten daran, besser zu werden. Auf Fehler sollte aufmerksam gemacht werden, wie es bei mir passiert ist." Oder direkt an Johnson gerichtet: "Ich habe in den vier Monaten seit ich diesen Job gemacht habe, viel gelernt und habe weiterhin noch viel zu lernen."

 

Miteinander reden hilft. Voneinander lernen hilft. Sich entschuldigen hilft. Dass wir als Gesellschaft nicht weiter kommen, wenn wir nicht zusammenhalten, solidarisch sind und aufeinander Rücksicht nehmen, lernen wir mit schmerzhaften Konsequenzen in der aktuellen Krise. Warum sollte das nicht auch für die Kunst gelten? Angesichts der Schließung von Museen wegen der neuen Corona-Regeln wurde Kritik an dieser Entscheidung geäußert. Es gibt beispielsweise eine gemeinsame Stellungnahme von Dutzenden Museumsdirektor*innen, in der unter anderem betont wird, wie wichtig die Erfahrungen für das Publikum sind, die es in Museen macht. Dieses Publikum ist auch in den sozialen Medien unterwegs und äußert dort Kritik basierend auf Erfahrungen. Man sollte es auch dort ernst nehmen.