Einer der Kernsätze von Dieter Rams, dem Helden des funktionalen Designs, lautet: Gutes Design ist ehrlich. Seitdem tragen etliche Vertreter das Mantra der Einfachheit vor sich her und unterschlagen dabei, was Design sonst noch kann: Es ist hinterhältig und listig, eine Waffe der Verführung und der Täuschung, nicht immer ehrlich, sondern auch die Kunst, etwas anderes vorzugeben, als es wirklich darstellt. Und damit sind nicht die billigen Tricks gemeint, die einem in so vielen Alltagsgegenständen begegnen – die mit Ledermuster geprägte Kunststoffoberfläche, das Holzimitat, die Chromleiste –, sondern die tiefer liegende Tradition: die Strategien des Tarnens und Täuschens im modernen Krieg.
Jeder kennt die Camouflage-Muster, mit denen seit dem Ersten Weltkrieg die Uniformen von Soldaten und die Oberflächen von Waffen und Fahrzeugen versehen werden. Sie sollen die Träger unsichtbar machen, sie visuell mit dem Hintergrund verschmelzen lassen. Die Anpassung an Wahrnehmungsmustern des Gegenübers. Aber das gleiche Prinzip liegt zeitgenössischen Wärmeschutzuniformen zugrunde, die vor Infrarotkameras verbergen sollen. Und auch die Tarnkappen-Technologie, die inzwischen nicht nur bei Flugzeugen, sondern auch bei Hubschraubern und Schiffen angewendet wird, setzt auf Unsichtbarkeit: Die Reflexion der Radarwellen wird unterdrückt, das zu tarnende Objekt erscheint nicht auf dem gegnerischen Radar.
Doch nicht immer basiert militärische Täuschung auf dem Prinzip, das Objekt verschwinden zu lassen. Manchmal soll das Gegenteil erreicht werden. Die US-amerikanische Armee entwickelte im Zweiten Weltkrieg aufblasbare Panzerattrappen aus Gummi, die der deutschen Luftaufklärung eine größere Truppenstärke vorgaukeln sollten. Eine Strategie, die bis heute verbreitet ist, man denke an nordkoreanische Raketenattrappen und den iranischen Stealth-Nachbau. In der Camouflage-Abteilung der US-Army arbeiteten übrigens viele Künstler und Designer, unter anderem der Maler Ellsworth Kelly, von dem es auch Werke gibt, die an die Strukturen klassischer Tarnmuster erinnern.
Die Königsdisziplin der Camouflage ist nicht das Verstecken, sondern das Irritieren. Manches lässt sich nicht verbergen und unsichtbar machen. Dann gilt es, den Gegner so zu verwirren, dass er über den wahren Charakter des Sichtbaren im Unklaren bleibt. Britische Militärs entwickelten (und auch hier waren Künstler und Designer im Spiel) für ihre Kriegsschiffe ein Muster, das die gegnerischen Augen von Art, Größe und Fahrtrichtung des jeweiligen Schiffs ablenkt: starke Kontraste, zackige Formen, spitze Dreiecke, dynamische Streifen. Aus dem militärischen Bereich ist dieses Dazzle, das an eine Mischung aus russischem Konstruktivismus und Op-Art erinnert, inzwischen verschwunden. Eine neue Bedeutung hat es aber im Bereich der alltäglichen Tarnung vor der computergestützten, mit biometrischen Parametern arbeitenden Videoüberwachung erhalten.
Das Muster taucht aber noch in einem anderen, hart umkämpften Bereich der Alltagskultur auf: dem Autodesign. Immer wieder sind in solchen Zeitschriften
und entsprechenden Blogs aberwitzig gemusterte Karosserien zu entdecken. Doch diese sind keine neuen Grafikdesigns, sondern Tarnmuster, die auf Testfahrten die Prototypen vor den neugierigen Augen der Hobbyfotografen schützen wollen. Und da sie sich nicht unsichtbar machen könnenwollen sie mit den wilden grafischen Mustern die wahren Formen so verunstalten, dass die Details nicht erkannt werden. Es gehört zur Ironie des Marketings, dass die so getarnten Erlkönige aussehen wie bislang unbekannte "Art-Cars" aus Op-Art und Pop-Art.
Aber auch in der Gegenwartskunst hat das Camouflage-System Konjunktur. Jeff Koons bemalte 2008 die Jacht eines milliardenschweren Kunstsammlers und bezog sich dabei ausdrücklich auf die Vorbilder aus dem Ersten Weltkrieg. Und auch Tobias Rehberger benutzte das Prinzip für seine Cafeteria bei der Venedig-Biennale 2009 und versteht sie ebenfalls als Referenz auf die militärische Tarnung. Ein Jahr später installierte er für den italienischen Espressohersteller illy eine Bar im Berliner Edelkaufhaus KaDeWe, dazu gab es auch ein Set Espressotassen als "Art Collection". Und 2012 brachte Dior eine Sonderkollektion auf den Markt, die Anselm Reyle gestaltet hat, darunter Handtaschen, Stöckelschuhe und Schminktäschchen im Camouflage-Look, aber nicht in Tarnfarben, sondern in Neon.
Es hat einen ästhetischen Reiz, die bekannten Camouflage-Muster in knalligen Farben zu sehen. Und die explosionsartigen Eruptionen, das Auffalten und Aufbrechen der Oberflächen, die dabei gleichzeitig Oberfläche bleiben, eröffnen Möglichkeiten für formale Experimente. Aber warum kommt Camouflage genau dann ins Spiel, wenn Künstler mit Marketingabteilungen flirten und sich mit ihren Projekten in den unscharfen Grenzbereich von Kunst, Design und Werbung begeben?
Vielleicht ist die Erklärung ganz einfach: Marketing bedeutet das Schlachtfeld der Gegenwart, auf dem um die Aufmerksamkeit und Zuneigung der Konsumenten gekämpft wird. Und Künstler, die sich in diesem Krieg mit Tarnung beschäftigen, greifen eine Tradition auf. Denn nicht nur die Pop-Art – man denke an Warhols Paintings – hat sich mit Tarnmustern als Phänomen des Alltags auseinandergesetzt, auch viele Künstler (in Deutschland zum Beispiel Franz Marc und Oskar Schlemmer) waren in Kriegszeiten als Maler von Camouflagen im Einsatz.
Wenn es also kein Zufall ist, dass geradein dem unscharfen Grenzbereich von
Kunst, Design und Vermarktung die Tarnmuster auftauchen, stellt sich die Frage, wen oder was der visuelle Rausch verbirgt, zeigen oder irritieren soll. Vielleicht kann man die Auseinandersetzungen auch als einen ironischen Kommentar verstehen, als Fingerzeig, dass das Design von Konsumprodukten, den Taschen, Cafés und Luxusjachten, eben nicht "ehrlich" ist, sondern auch der Täuschung der Konsumenten dient.
In diesem Sinn ist die heutige Verwendung von Camouflage-Muster und Dazzle-Grafik auch ein Spiegel unserer Gesellschaft: eine Bild- und Formensprache, bei der die Oberflächen explodieren, um vom Inhalt abzulenken – die aber diesen Täuschungsversuch durch die ästhetische Überhöhung enttarnt und zum bloßen Dekor erhebt. Vielleicht ist genau das der Unterschied zwischen den Ausflügen in die Welt des Designs und dem Produktdesign.
Während die künstlerische Auseinandersetzung mit der Welt dieses Marketings dies ironisch reflektiert, zieht sich das übliche Produktdesign auf die Fiktion der eigenen Ehrlichkeit zurück. Deshalb sind die mit den Dazzle-Mustern getarnten Erlkönige weder neue Art-Cars noch poppige Sondereditionen, sondern funktionale Tarnungen.
Kaufen kann man am Ende dann nur die bekannten, glatten Oberflächen, auf die wir dann unsere Wünsche und Lebensträume projizieren sollen.
Dieser Text ist ursprünglich in Monopol 11/2012 erschienen