"Bravo"-Starschnitte

Relikte der Sehnsucht

"Bravo"-Starschnitte sind wundervolle Zeugnisse einer lange vergangenen vordigitalen Zeit. Eine magische Stück-für-Stück-Materialisierung göttlicher Wesen. Unser Autor, der Künstler Claus Richter, schwelgt in Erinnerungen

Verrückt aber wahr: Man muss heutzutage alt sein, um überhaupt noch zu erahnen, wie wichtig Jugendzeitschriften einmal waren. Kaufen heute Teenager noch die "Bravo"? Nein. Sterbenslangweilig. Das Medium hat sich, genau wie Spielzeugläden, Sexshops, Shopping-Malls, Brieffreundschaften und Mixtapes aufgelöst und ins Digitale verlagert. Die Auflage sinkt und sinkt, laut Wikipedia verzeichnet sie seit 1998 ein Minus von 94,6 Prozent. Zu groß ist das digitale Angebot und zu eng vielleicht noch die Idee von Gatekeeper-Magazinen, die eine gewisse Ausschließlichkeit haben. Moderation von Inhalten war gestern.

Von den späten 1950er- bis in die späten 1990er-Jahre hatte man als westdeutscher Teenager noch kein Handy, sondern Zeitschriften wie die "Bravo". Darin stand dann alles Mögliche über Stars und Popmusik, es gab auch sexuelle Aufklärung und ein bisschen Mode und man konnte Brieffreundschaften starten und Horoskope studieren. Natürlich scheint das vielen Leuten alles im Nachhinein vergleichsweise spießig, ist aber eigentlich auch im Rückblick noch ausreichend bunt, informativ, reißerisch und begehrlich.

Die Welt hat sich halt sehr verändert. Die "Bravo" war nie das TikTok von damals. Soch ein Konzept von frei flottierenden, sich selbst erschaffenden Inhalten und Trends war in sehr weiter Ferne. Die damaligen Jugendzeitschriften waren kein reißender Strom aus schnell erlöschenden Neuigkeiten, in die man hineinsprang, sondern rare Fenster in die Welt der Popstars, die man genauestens und oft eine Woche lang durchstudierte. Die einzigen Fenster. Wenn man also als Popstar drin war, wurde man gesehen. Und war ein Star öfters drin und heißgeliebt, gab es vielleicht irgendwann einen Starschnitt. 

Den geliebten Star ins eigene Zimmer teleportieren

Und genau hier kommt die digitale Welt nicht mit, denn Starschnitte waren großartige Gottesbilder, woran jetzt eine Ausstellung in den Opelvillen Rüsselsheim erinnert. Starschnitte waren physische Manifestationen brennend heißen Begehrens und flammender religiöser Huldigung. Nach und nach konnte sich ein Teenager mittels Starschnitt den geliebten Star ins eigene Zimmer teleportieren. Erst die Füße, ein Heft später dann die Unterschenkel, nach und nach den Körper, und - oft ganz, ganz zuletzt - den Kopf. 

Anders als beim Poster war der Star hier nicht nur eine verkleinerte Ikone, in deren unbeschreiblichen Blick man sich, der Welt enthoben, verlieren konnte. Nein, ein Starschnitt war ein lebensgroßes "Beinahe", ein Objekt, das eine tatsächliche Anwesenheit vortäuschte. Das Gehirn ist gerne bei solchen Täuschungsmanövern voll dabei. Ist schon klar, dass niemand wirklich glaubt, ein Starschnitt sei ein echter Mensch, aber mit ein bisschen Bereitschaft zum Fantasieren ist ein Starschnitt eine Art Verankerung des verehrten Stars im eigene Leben.

Starschnitte waren Ziele erotischer Fantasien und heißer Küsse auf glänzendes Zeitschriftenpapier, ich glaube aber, dass Starschnitte weit über die scheinbare sexuelle Verfügbarkeit hinaus oft vielmehr emotionale Übergangsobjekte waren. Und Trost. Als Teenager baut sich das Gehirn nochmal um, in der Pubertät versteht man so viel nicht mehr, ist so oft deprimiert, entrüstet, sauer, verschüchtert, und unsicher, da ist ein offensichtlich schweigend zustimmender Superstar im eigenen Zimmer eine sehr tröstliche Begleitung. Niemand versteht mich, außer Boy George! Ich hasse alle, außer die Beatles! Und auch nicht-menschliche Figuren kamen Stück für Stück durch den magischen Starschnitt in die Zimmer gehirnumbaugestresster Teenies, um Trost zu spenden.1983 zog zum Beispiel nach Shakin' Stevens recht schnell auch E.T., der Außerirdische, auf sieben Hefte verteilt, in die Safe Spaces junger Leute, danach kamen dann wieder "echte" Figuren wie Nena, Kajagoogoo, Rod Steward und Wham!.

Starschnitte zeigen die Geschichte der Popkultur in Westdeutschland

Starschnitte gab es schon seit den späten 1950ern. Der erste Starschnitt zeigte im Jahr 1959 Brigitte Bardot. Es lässt sich wirklich gut anhand der Starschnitte verfolgen, wie die Popkultur in Westdeutschland sich über die Jahre formte, veränderte und zu guter Letzt digital verflüssigte. Bestimmen in den 1960er-Jahren noch eher lokale deutsche Stars wie Caterina Valente (in einem irren Cocktail Kleid), Rex Gildo (als Rocker mit Gitarre), Peter Kraus (ebenfalls als Rocker und ebenfalls mit Gitarre), Uschi Glas und Roy Black die Starschnitt-Welt, mischen sich dann zunehmend internationalere Acts wie Elvis Presley, die Beatles, Rock Hudson und Barry Gibb unter die lebensgroßen Ausschneidefiguren. 

Die 1970er öffnen dann das Fenster weit nach England und Amerika. T-Rex geben sich die Ehre, ABBA aus Schweden kommen auch vorbei, Smokie, Status Quo, Mick Jagger, die Bay City Rollers (für die man 17 Ausgaben sammeln musste!) und auch Superman und die Village People stiegen damals lebensgroß aus den Bravo-Heften in die Zimmer der Fans. Der vielleicht schönste Starschnitt der 1970er ist Juliane Werding, komplett in futuristisches silbernes Leder gekleidet auf einem ebenfalls silber-chromglänzenden Motorrad. (Auch hier benötigte es ganze 17 Hefte, bis man den Wahnsinn an der Wand hatte)

Die 1980er, auch die Zeit meiner Adoleszenz, sind voll mit den Superstars der damals vielleicht am prachtvollsten erblühten kommerziellen Popkultur. Adam Ant, Kim Wilde, Duran Duran, Michael J. Fox und A-HA, Don Johnson und Nena sind nur einige Figuren dieser Hochphase, und dazu eben E.T., ich werde sentimental.

Die 1990er bringenden nur noch drei Starschnitte hervor, New Kids on the Block, Chesney Hawks und Jason Priestley, und in den 2000ern versiegt das Phänomen dann langsam aber sicher endgültig. 

Sich heute vorzustellen, ganze 15 Wochen lang Heft für Heft eine lebensgroße Abbildung von Duran Duran zusammenzusammeln scheint vollkommen absurd. In einer Zeit, in der jede Information sofort auf Knopfdruck verfügbar und jedes Objekt zeitnah zur eigenen Haustür lieferbar scheint, wäre es eine unnötig forcierte Verknappung, Hingabe und Geduld in etwas wie einen Starschnitt investieren zu müssen. Die 15 Wochen steckt man jetzt eben eher ins Durchspielen von Zelda … Einen Starschnitt an die Wand zu bekommen, war also eine richtige Sache damals. 

Brücken durch die Zeit

Und deshalb ist es gerade heute grandios, sich den massiven Abstand zu dieser scheinbar in unendlicher Ferne liegenden vordigitale Welt anhand der Starschnitte der damaligen Zeit vor Augen zu führen. Als ich mir all diese Stars angesehen habe, all diese Aufregung, all die Emotionen, ging es auf einmal um mehr als nur Sentimentalität und Nostalgie. Museale Artefakte aus vergangenen Tagen sind inzwischen nicht nur römische Scherben, uralte Rüstungen und Münzen, sie sind inzwischen auch Gegenstände, die ich noch als Objekte meiner damaligen Gegenwart erlebt habe.

Alle Dinge werden zwangsläufig zu Trägern von Erinnerung und Brücken durch die Zeit. Sie sind gegenwärtig und werden dann, und das ist der Trick, erst einmal ein bisschen vergessen und durch die ständig nachströmende Gegenwart überspült. Alte Starschnitte, alte "Bravo"-Hefte, Kaugummipapiere, Singles, der hochmoderne Taschenrechner von 1979. Um dann plötzlich irgendwo herumzuliegen, auf einem Dachboden, in einer Schublade, irgendwo. Und plötzlich sind sie Relikte einer vergangenen Zeit, reif fürs Museum, Phänomene einer anderen Realität. Und so zeigen die alten Starschnitte viel über die damalige Popkultur, Star-Verehrung, Mode, das Entstehen des Teenagers, Sexualität, und auch, als kleines Puzzleteil über die Stimmung der Kids vor 40 oder 50 Jahren.

Wie machen das später die Teenager von heute mit dem Erinnern? Muss man Milliarden TikToks in riesigen geheimen Cloud-Speichern aufheben, damit die heutige Generation sie dann irgendwann nach 30 Jahren wiederfindet? Wie archiviert man Websites, Streaming-Dienste, WhatsApp-Chats? Allein die Aber-und Aber-Milliarden von privaten Fotos auf all den Handys werden sich in den Untiefen der Speicher und alten Festplatten verlieren. Velleicht halb so wild, aber irgendwie seltsam, sind sie doch eigentlich als Erinnerungen entstanden. Und sofort wieder vergessen.

Starschnitte stammen, wie Papierfotos, aus einer Zeit, die damals als ebenso schnell und hektisch empfunden wurde wie unsere jetzige Gegenwart, das wird sich sicher nie wirklich ändern. Sie zeigen in all ihrer energiegeladenen Inszenierung von "Jetzt!" fast schon melancholisch, wie schnell Zeit vergeht, wie schnell und unbemerkt sich Aufmerksamkeiten verschieben und was dann zum Schluss als nostalgisch aufgeladene Relikte wird. Ein paar bedruckte Fetzen Papier erzählen verklärt davon, wie einfach es wohl einmal war.