Es ist ziemlich genau vier Jahre her, dass die Corona-Pandemie große Teile der Welt in den Ausnahmezustand versetzte. Zum Mikro-Jubiläum der ersten Lockdowns wird aus verschiedenen Richtungen eine politische Aufarbeitung gefordert - und jeder scheint eine ganz genaue Vorstellung davon zu haben, wer wann was falsch gemacht hat. Was bei all der Frontenbildung inzwischen fast wieder vergessen wurde: Es gab eine Zeit, in der sich niemand seiner Position sicher sein konnte - und in der auch die sonst so unantastbar wirkenden Politikerkörper plötzlich verwundbar wurden.
Boris Johnson lag mit Covid auf der Intensivstation, Donald Trump beteuerte schwitzend und sichtlich fiebernd, es gehe ihm blendend, und auch Emmanuel Macron meldete sich im Dezember 2020 in einem kuschelig aussehenden Rollkragenpullover und mit verstopfter Nase aus der Corona-Isolation. Es war ein seltenes Zeitfenster, in der die körperliche Schwäche von Herrschern (vor allem im generischen Maskulinum) offensiv inszeniert wurde und die sonst extrem unkörperliche Politik-Maschinerie ins Stottern geriet.
Eine breitere Diskussion über die unrealistischen Ansprüche an Menschen (!) in Machtpositionen blieb jedoch aus. Spätestens seit dem russischen Einmarsch in die gesamte Ukraine geht es wieder vorrangig um Stärke. Die Theorie von Ernst Kantorowicz, nach der es "zwei Körper des Königs" geben muss (einen sterblichen und einen unsterblichen), scheint weiterhin bestimmend zu sein. Der 81-jährige US-Präsident und erneute demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden versucht mit betont sportlichen Turnschuh-Auftritten, Bedenken zu seinem Alter wegzuwalken. Und gerade hat sich der französische Präsident Emmanuel Macron, der zuletzt provokant mit dem Einsatz von EU-Einsatzkräften in der Ukraine liebäugelte, von seiner offiziellen Fotografin Soazig de la Moissonnière beim Boxen ablichten lassen.
Muskelspiele in der Politik
Der 46-Jährige, sonst eher in schmalen Anzügen anzutreffen, schlägt darauf in bester Rocky-Manier in T-Shirt und schwarzen Handschuhen auf einen Boxsack ein. Gefletschte Zähne und ein imposant geschwollener Bizeps lassen die Szene eher wie ein Anti-Aggressions-Training als wie eine Cardio-Fitness-Einheit aussehen. Oder ist es gar eine Botschaft an Wladimir Putin, der selbst Judoka mit schwarzem Gürtel ist und sich in der Vergangenheit öfter bei Testosteron-gesättigten Sportaktivitäten fotografieren ließ? Dass es dabei um politische Muskelspiele geht, scheint bei einem PR-Profi wie Macron zumindest gesichert.
Nun diskutiert gefühlt ganz Frankreich ob a) Macrons Bizeps retuschiert und digital aufgepumpt wurde und b) ob eine solch martialische Inszenierung eines Staatsoberhaupts angemessen ist - der zögerlichere deutsche Kanzler Olaf Scholz begnügt sich mit Joggen. Einerseits kann es zynisch sein, wenn Kriege und weltpolitische Krisen offenbar auf physische Drohgebärden mächtiger Männer heruntergebrochen werden - und wenn ein demokratisch gewählter Präsident das Gebahren eines Diktators nachahmt. Ist ein starker Anführer eines Landes jetzt wieder einer mit möglichst voluminösen Oberarmen? Man erinnere sich an die (bisher nicht umgesetzten) "Cage-Fight"-Pläne zwischen den Internet-Herrschern Mark Zuckerberg und Elon Musk. Verteilungsfragen, die Millionen Nutzerinnen und Nutzer angehen, sollen Brot-und-Spiele-mäßig und "unter Männern" geklärt werden.
Andererseits hat das Boxen als Metapher eine lange Geschichte. Schon Bertolt Brecht sah das Leben als "einen dieser Kämpfe, die nicht enden wollen, Runde folgt auf Runde […], keine Entscheidung […] wieder und wieder der Gegner, der dir so gleicht, dass du nicht die Augen davor verschließen kannst, dass du selbst dein Gegner bist." Andersherum formulierte es der Documenta-IX-Kurator Jan Hoet, der 1992 Profi-Kämpfe im Rahmen seiner Kasseler Ausstellung stattfinden ließ. Er sah den Boxkampf "nicht als Metapher für die Kunst, sondern für das Leben".
Falls Emmanuel Macron mit seinen Fotos jedoch etwas über sein Politikverständnis aussagen wollte, kommt er an Joseph Beuys nicht vorbei - sozusagen dem Übervater des Boxens in der europäischen Kunst. 1972 stieg der nicht ganz so muskulöse Rheinländer - ohne Hut - auf der Documenta 5 in den Ring und kämpfte gegen seinen Schüler Abraham David Christian. Er gewann nach Punkten.
"Boxkampf für direkte Demokratie" hieß das Spektakel im Fridericianum - und löste viele Fragen aus, die man heute auch dem französischen Präsidenten stellen könnte. Wurden reale politische Kämpfe durch die "Versportung" auf symbolisches Terrain abgeschoben? Hatte sich ein Vertreter der (künstlerischen) Elite das mit der Arbeiterklasse verbundene Boxen unter den Nagel gerissen?
Schmaler Grat zwischen Durchschlagskraft und Lächerlichkeit
Immerhin ging Beuys' Kampf-Auftritt ein 100-tägiger Gesprächsmarathon voran, bei dem der Künstler Diskutanten aller Couleur zum verbalen Schlagabtausch empfing. Bei allen Vorbehalten, die man gegen die Ideologien des Konzept-Papstes hegen kann, ist so viel Raum für Kontroverse heute nur schwer vorstellbar. Dabei wäre er wohl nötiger denn je. Außerdem hat sich Beuys nicht nur die Pose eines Boxers verpasst, sondern sich ganz sprichwörtlich in die Arena begeben und sich dem Gegner und dem Publikum ausgesetzt - womit wir wieder bei der Verletzlichkeit wären.
Von Beuys könnte Macron also lernen, dass man sich als performativ-politischer Boxer auf einem schmalen Grat zwischen Durchschlagskraft und Lächerlichkeit bewegt. Und dass Draufhauen ohne Reden keine Demokratie, sondern Populismus ist. Ganz uneitel ging übrigens auch Joseph Beuys nicht an seinen Boxkampf heran. Eigentlich sollten er und Abraham David Christian bei ihrem Kampf einen Kopfschutz tragen. Beuys legte seinen jedoch in letzter Minute ab - um auf den Fotos männlicher zu wirken.