Gleich das erste Foto lässt keinen Zweifel daran: Das Leben der Bohème ist kein Zuckerschlecken. Die schwarz umrandeten Augen von Vali Myers starren tagträumend ins Leere, im Mund steckt eine Zigarette, der Mantel ist völlig durchnässt und die wild toupierten Haare hätte man modisch auch nicht im Paris der Nachkriegszeit vermutet.
In Ed van der Elskens monochromen Fotoband "Love on the Left Bank", erstmals 1954 in kleiner Auflage erschienen, legte Myers den Auftritt ihres Lebens hin, als Galionsfigur einer in den Startlöchern stehenden Jugendkultur und späteres Vorbild für die Teenagerin Patti Smith. Als beide in den frühen 1970er-Jahren in New York aufeinandertrafen, tätowierte Myers einen Blitz auf Smiths Knie. Diese beschrieb sie als "das beste Beatnik-Küken – dickes rotes Haar und große schwarze Augen, schwarze Pullover mit U-Boot-Ausschnitt und Trenchcoats".
Das Buch kam als impressionistische Erzählung daher, fiktiv gruppiert um Ann, eine Bohèmienne und ihren Kreis in Bars und Clubs vagabundierender Freunde. Van der Elskens intime Kamera folgte ihr, während sie trank, flirtete, tanzte, sich verliebte, schlief und an einer Wand lehnte, auf der das situationistische Wort Rêve (Traum) stand.
Sie liebten und sie langweilten sich
Dazu passt, dass auf einem der Barszenen der Kopf des Aktivisten Guy Debord zu sehen war. Kaum ein anderer Foto-Band hat das Lebensgefühl jugendlicher Nonkonformität, das in den kommenden Jahrzehnten in den Mainstream rücken und ritualisiert werden sollte, so treffend eingefangen. Sie liebten und sie langweilten sich, auf der Schwelle zu einem Umbruch, den nicht alle unbeschadet überstanden.
Myers wurde opiumsüchtig und lebte zeitweise in ihrem ganz persönlichen "Garten Eden", einem kleinen Haus in Positano. Van der Elsken sagte später über sein Opus magnum: "Ich berichte gerne über jungen, rebellischen Abschaum … Ich freue mich über alles. Liebe. Mut. Schönheit. Auch Blut, Schweiß und Tränen. Haltet die Augen offen."
Genau das sollte man auch in der von Russell Ferguson, UCLA-Professor aus Los Angeles, kuratierten Ausstellung "Bohemia. History of an idea. 1950-2000" in der Kunsthalle Praha tun. Er definiert die Idee der Bohème als "ein Bekenntnis zur Kunst in all ihren Formen, zur sexuellen Freiheit, zur Umarmung von Alkohol, Drogen und Rausch im Allgemeinen, Arbeitsfeindlichkeit und konventionellem Ehrgeiz."
Vorliebe für stets gefüllte Champagnergläser
Und das mitten in Böhmen, wo der Begriff nicht etwa geboren wurde, wie man hätte annehmen können. Zum ersten Mal aufgetaucht ist er im 19. Jahrhundert in Paris. Gemeint war die Revolte gegen die Zwänge des bürgerlichen Lebens. Man verband das Gegenprogramm mit dem Lebensstil von Sinti und Roma, die vermeintlich aus Böhmen kämen.
Bereits um die Mitte des Jahrhunderts, nachdem Henri Murger Kurzgeschichten mit dem Titel "Bohème. Szenen aus dem Pariser Leben" veröffentlicht hatte, echauffierte sich ein gewisser Karl Marx keineswegs antibürgerlich in "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" über die "Vagabunden, entlassenen Soldaten, entlassenen Gefängnisinsassen, entflohenen Galeerensklaven, Bankiers, Lazzaroni, Taschendiebe, Betrüger, Spieler, Bordellwärter, Träger, Literaten, Drehorgelspieler, Lumpensammler, Messerschleifer, Kesselflicker, Bettler – kurz die ganze bestimmte, zerfallene Masse, hierhin und dorthin geworfen, die die Franzosen la bohème nennen."
Ein weiteres halbes Jahrhundert später blieb von diesem Personal in der gleichnamigen Oper von Puccini der verarmte Künstler übrig, der die Anforderungen eines Berufs- und Familienlebens ablehnt. Was der Absinth für Rimbaud und Verlaine war, leisteten die "Roaring Twenties" in Paris für Emigranten wie Hemigway und Joyce mit ihrer Vorliebe für stets gefüllte Champagnergläser.
Erst die Bohèmiens, dann die Gentrifizierung
Ferguson erspart sich diese zum Klischee geronnenen Vorläufer, schaut bei den Beatniks in New York vorbei, nimmt das Swinging London und das San Fransisco der Hippies mit, flankiert von weiteren Großstädten wie Teheran oder Peking, in denen Bohèmiens zur Attraktivität heruntergekommener Viertel beitrugen, nur um sie sich wenig später nicht mehr leisten zu können.
Nan Goldin fing das süß-bittere Leben vor der Gentrifizierung auf Hunderten von Fotos in "The Ballad of Sexual Dependency" ein. Während AIDS in New York wütete, dokumentierte sie eine Bohème im deprimierenden Sinkflug. Heute lässt sie sich von Groß-Galerist Larry Gagosian vertreten.
Ob der blutjunge Mick Jagger mit wütend-traurigen Augen, Wolfgang Tillmans verlassene Party-Szenen oder Ai Weiweis ausgestreckte Mittelfinger – für jede Generation der subkulturellen Umstürzler endet der Traum von der Freiheit offenbar entweder in Selbstzerstörung oder Anpassung an die eins verhassten bürgerlich-kapitalistischen Spielregeln.
Der alte Charme ist kaum noch auffindbar
Die wenigsten halten die Konsequenz der Jugend durch. Die Lebenszeit wird knapper und die eigene Kunst nicht selten schlechter. Das könnte beim Flanieren durch die auch mit weniger bekannten Positionen auftrumpfenden Hommage (zum Beispiel Libuše Jarcovjáková, die in den 1980er Jahren in Prag das Nachtleben von Randgruppen schonungslos fotografierte) nostalgisch stimmen. Zumal der obskure Charme dieser Epoche in dem von Investoren, darunter auch dem Gründer der Kunsthalle Praha, ausgeglätteten Prag von heute kaum noch auffindbar ist.
In Zeiten des Rückzugs in den Cyberspace, in dem jeder in seiner Blase zu verschwinden droht, ist auch die Kategorie "digitale Bohème" nicht nur in ökonomischer Hinsicht längst entzaubert. Sollte man sich um die Wirkungsmacht des Konzeptes also Sorgen machen? Warum sonst beendet Ferguson seine Recherche um die Jahrtausendwende?
Und was ist mit dem Hier und Jetzt? Wenn der Kunstmarkt die subversiven Rezepte mitliefert, während der prekär lebende Künstler, nicht nur in Berlin, zum Massenphänomen geworden ist? Die These vom Ende der Bohème ist beinahe so alt wie diese selbst. Ihr Wiederaufflammen ist deshalb so sicher wie die nächste Finanzspekulation. Dazwischen lockt immer wieder aufs Neue der dionysische Wille zum Feiern der eigenen Vergänglichkeit - mit all ihren das Leben bereichernden und vergiftenden Blüten.