Künstler Claus Richter über "Blade Runner 2049"

Ein Ich aus Stromimpulsen

Unser Autor Claus Richter ist der größte Fan des Science-Fiction-Klassikers "Blade Runner" aus den 80ern, der auch für seine künstlerische Arbeit immens wichtig war. Inzwischen hat der Kölner Künstler die Fortsetzung "Blade Runner 2049", die seit Anfang Oktober in den Kinos läuft, drei Mal gesehen. Kann sie mit dem Original mithalten?

Eine der maßgeblichen Prägungen meines Lebens bestand darin, Mitte der 80er-Jahre "Blade Runner" als 16mm-Kopie in einem Jugendzentrum in Lippstadt zu sehen. Die Stimmung, die Opulenz an Details,  die unfassbar dichte Welt des Films und seine Fragestellungen haben mich seitdem nicht mehr losgelassen. "Blade Runner" ist und bleibt mein absoluter Lieblingsfilm. Ich kann ihn auswendig. Ich habe mein Diplom darüber gemacht, habe Ausstattungsgegenstände daraus nachgebaut, die Wohnung der Hauptfigur Deckard anhand von VHS-Standbildern als Modell rekonstruiert, jeden Soundtrack-Bootleg gehortet, jede Skizze des Szenenbildners Syd Mead aus den Untiefen des Internets gesaugt, Ebay nach raren Fotos und Memorabilia abgeklappert. Ich bin nach Los Angeles gefahren, um die Drehorte zu besuchen und mit Gary vom dortigen Fanclub zu fachsimpeln.

Kurzum, ich hatte einen für den manischen Fan typischen Groll gegen einen zweiten Teil meines Lieblingswerks. Unnötig, grauenhaft und unter Garantie so platt, dass man sich in siedendem Gegenwartshass "Früher war alles besser" auf die Stirn tätowieren lässt.

Es ist in letzter Zeit so viel versaut worden mit miesen Reboots und schlechten Fortsetzungen. Bei "Tron Legacy" habe ich noch verdattert den Kopf geschüttelt, bei "Prometheus" war ich wirklich sauer.

Zuerst wollte ich also gar nicht ins Kino, dann nur mit einem gewissen Fatalismus, dann kamen die guten Kritiken, denen ich nicht so recht getraut habe, und jetzt habe ich "Blade Runner 2049" schon drei Mal gesehen, denn es ist ein guter zweiter Teil. 

Schwebendes Kino aus purem Licht und Dunkel

"Blade Runner 2049" ist düsterer, spröder und einsamer als das 1982 entstandene Original. Manchmal fast schon schwebendes Kino aus purem Licht und Dunkel. Wie ein Todestraum erscheinen die im Nebel fliegenden Lichter der Spinner und die dunkle und nicht mehr erleuchtete Tyrell-Pyramide.

Kälter, leerer, einsamer. Nicht nur die Handlung des Films, auch die Entstehungszeit liegt 30 Jahre zurück, und Denis Villeneuve berücksichtigt das mit einer angenehmen Selbstverständlichkeit. War der Personal Computer im Jahre 1982 noch Neuland, war futuristische Technologie noch haptisch, hatte Knöpfe, Schalter und dicke Bildschirme, so sind heute (kurz vor dem Jahr 2019, in dem der erste "Blade Runner" spielt) so visuell unscheinbare und doch wirkmächtige Dinge wie soziale Netze, Smartphones und User-Algorithmen der futuristische Alltag.

Das sieht man auf den ersten Blick nicht, weil es eben nicht spektakuläre Architektur oder fliegende Autos sind, die unsere Zukunft ausmachen, aber es bohrt sich um so tiefer in unser Sozialgefüge.

"Blade Runner 2049" reagiert darauf, wie ich finde, auf eine sehr gute Art. In einer Mischung aus Carlo Collodis "Pinocchio", Ridley Scotts "Blade Runner", "A.I." von Steven Spielberg (wiederum eine brilliante "Pinocchio"-Interpretation) , "Her" von Spike Jonze und wie ein düsterer, sehr, sehr langsamer Traum windet sich Villeneuve trotz unzähliger Zitate, Anspielungen und Übernahmen heraus aus der Last, es allen recht machen zu müssen, und dreht einfach einen Film, der einerseits eine Liebeserklärung an die melancholische Philosophie und den stilbildenden Look des Originals ist, andererseits aber tatsächlich neue Felder und Fragen öffnet, die man vor 30 Jahren noch gar nicht auf dem Schirm haben konnte. 

Kränkungen des verknitterten Egos

Die Kränkungen der Menschheit (nach Freud) werden nicht weniger. Musste man sich nach Kopernikus nur die Wunden lecken, weil man nicht der Mittelpunkt des Alls war, so folgten alsbald mit Darwin die "biologische" Kränkung, die uns ins Tierreich einband, und Freuds psychologische Kränkung, die uns ans Unbewusste bindet. Immer bröckeliger wird das egomanische, anthropozentrische Selbstbild, was ja durchaus zu einsichtiger Demut gegenüber der restlichen, ziemlich großen und geheimnisvollen Welt führen sollte, aber eben auch irgendwie weh tut.

Und hier setzt Villeneuve bei einer der aktuellsten Kränkungen an: der neurobiologischen Funktionalisierung von Bewusstsein.

Immer stärker wird der Dualismus des "Leib-Seele"-Modells, einem der letzten Rückzugsorte des verknitterten Egos, in Frage gestellt. Hirnforscher, Funktionalisten und Materialisten verorten in einer Art Ego-Kamikaze das Bewusstsein und Ich-Empfinden in Hirnwindungen und entleeren unser vermeintliches "Ich" jedweder Idee von Seele oder Geist. Ich ist nicht mal ein anderer, Ich ist ein Haufen Stromimpulse und eine Illusion. Seufz.

Es tauchen in "Blade Runner 2049" an zwei Stellen - zu Beginn und ganz zum Schluss - bewusst rührende Momente auf, die für mich vielleicht sogar die Schlüsselmomente des Films sind. 

(Achtung, Spoiler folgen!)

So spürt Joi, die holografische Geliebte von Officer K, dem Replikanten, durch ihre neue Mobilität mittels eines "Emanators" zum ersten Mal Regen auf ihrer nicht-existenten Haut. Joi ist eine der neuen und sehr zeitgenössischen Figuren, sie ist wahrscheinlich eben nicht mehr als Algorithmen, immateriell wie das Internet und auf ihren Besitzer zugeschnitten wie eine Filterbubble. Joi hätte man sich auch 1982 schon ausdenken können, sie hätte aber nicht die Relevanz gehabt, die so eine Figur heute bekommt.

Joi ist zugleich auch ganz unten im Kastensystem der geborenen und gebauten Menschen. Sie hat nicht mal mehr einen realen Körper (und muss sich unwillig über den Körper einer Prostituierten stülpen, um Officer K physisch zu lieben) Sie ist wahrscheinlich voll und ganz auf die Erfüllung der Wünsche ihres einsamen Besitzers programmiert und kann somit nicht wirklich behaupten, eine Seele, ein "Selbst", einen eigenen Geist in der Maschine zu besitzen. Und doch ist der Moment, in dem sie in den Regen hinaustritt, ein Moment, den die heutigen Kritiker des funktionalistischen, materialistischen Modells als "Qualia" bezeichnen würden: ein zutiefst subjektives Erleben, ein nicht wissenschaftlich messbares oder erzeugbares Gefühl von Da-sein, in dem ein wie auch immer gearteter Geist die Welt und sich darin spürt.

Joi, dieses artifizielle Wesen, erlebt, durch ein kleines Gerät ihrer platonischen Höhle entflohen, die Welt in anrührend simulierter oder überraschend echter Tiefe. Wie genau, bleibt offen, und das macht den Film so nachhaltig. Denn diese Frage beschäftigt nicht nur Hologramme, sondern zunehmend auch uns gekränkte Menschen. 

Risse im Fundament unserer Weltwahrnehmung

Man muss nicht mal die gar nicht mehr so neue virtuelle Realität, die dann bald auf jedem iPhone und in jeder Playstation einziehen wird, als Riss im Fundament unserer Weltwahrnehmung beschwören, der Riss sitzt viel tiefer und ist viel schmerzhafter. Er entsteht durch das, was uns selbst als Menschen auszumachen scheint: freier Wille, Reflektion, Sprache, Imagination, Technologie, Zeit- und Todesbewusstsein, Ich-Empfinden. 

In einer Zeit, in der nicht mehr nur über künstliche Intelligenz, sondern zunehmend auch über künstliches Bewusstsein nachgedacht wird (beides noch weit entfernt von umfassender technischer Realisierbarkeit), stellen wir uns eben auch zunehmend die Frage, ob es uns als Seelen und freie Geister überhaupt so gibt, wie wir es uns in unseren vielleicht ja nur illusorischen Egos wünschen. Vielleicht sind wir eben doch nicht mehr als die Summe unserer Teile.

Und wenn doch, zerkratzen wir uns die Nägel an der quälenden Frage, warum so etwas komisch Bewusstes wie wir in die uns gegenüber brutal gleichgültige Welt geworfen wurde. Um sie zu erkennen? Nur aus Spaß? Keine Antwort.

Im letzten Teil des Filmes kämpfen Officer K und seine Gegenspielerin, die optimierte Luv, an einer Brandungsmauer um das Leben und die Freiheit von Deckard, der alt, kampflos und gefesselt im Inneren des hochtechnisierten Fluggeräts nach und nach im Wasser versinkt. Diese Szenen sind wie symbolistische Gemälde, in denen die unfassbar riesige, gewaltige und rätselhafte Welt die lächerlichen, absurden Menschen (beziehungsweise Replikanten, beziehungsweise: Was auch immer!) in ihrer Winzigkeit zermalmen und verschlingen will. Brüllend und tosend wie der Soundtrack des Films schlagen die nächtlichen Wellen gegen die Wesen und ihre Technik, Wesen, die selbst schon nicht mehr menschlich sind oder vielleicht doch oder nur ein bisschen oder mehr sogar als ihre menschlichen Vorbilder.

Strukturierte Technik als Bollwerk gegen die chaotische Natur wird hier von einem riesigem brüllenden Wasser angegriffen, man denkt zurück an den Satz, den Lieutenant Joshi, Officer Ks menschliche Vorgesetzte, so vehement spricht, als herauskommt, dass eine Replikantin ein Kind geboren hat: "There is an order to things. That's what we do here. We keep order." Dabei steht sie geschützt durch ein modernes Gebäude im Trockenen, während draußen der kalte Regen chaotisch und gnadenlos gegen die Scheiben prasselt. Technologie als Schutz, Ordnung als Halt. Doch was nur, wenn die Ordnung in Frage gestellt wird? Vom tosenden Meer - oder von sich selbst.


Die Replikanten in "Blade Runner 2049" sind sich bewusst, dass ihre Erinnerungen künstlich sind. Sie funktionieren so, wie man es dem unreflektierten Menschen vorwerfen möchte: sediert und Sachzwängen folgend, ohne Fragen zu stellen, die sich sowieso nicht beantworten lassen.

Und so ist es die zweite Szene zum Ende des Films, in der der erschöpfte oder sterbende Officer K (kurzzeitig zu einem geborenen und echten geradezu auserwählten Wesen namens Joe geworden, um dann in einer weiteren maßlosen Kränkung doch nur eine von vielen namenlosen Fleischmaschinen zu bleiben) langsam und fast schon erlöst auf die Treppen sinkt, um sich den Schnee auf die Hände und das Gesicht fallen zu lassen. Um die Welt zu spüren, um DA zu sein.

In diesem Moment triumphiert der Geist, ob er nun echt oder imitiert ist, über die Qual der vermeintlichen Bedeutungslosigkeit, der Anzweiflung der Seele. Der Geist spürt den Schnee auf sich fallen, er ist da in der (dieses Mal ganz sanft herabrieselnden) Welt, wie auch immer, warum auch immer, für wie lange auch immer. Und dieses DA SEIN ist sein Triumph. Ich war da, ich habe den Schnee gespürt, ich habe an diesem sinnlosen absurden Wunder von Welt und Leben teilgenommen, und das ist an sich schon irre genug.

In diesem Moment gleitet "Blade Runner 2049" aus der Düsternis, wird im Nachhall geradezu anti-apokalyptisch und milde gegenüber all den Seelen, die eigentlich nur dringend geliebt werden wollen, als irrer Gott, als beste Replikantin, als Average Joe, als Bringerin von Erinnerungen, als Liebende, als  Freigeister. Ganz, ganz zum Schluss werden alle irgendwie von dieser Welt gehen und vorher vielleicht zumindest den Schnee gespürt haben. Zumindest das.