Heike Hennig im Porträt

Beweglicher Geist

Fotos: Christoph Busse
Fotos: Christoph Busse
Tanzender Freigeist: Heike Hennig zieht ihre Ideen aus ihrem direkten Umfeld.

Bloß keine Grenzen: Heike Hennig vereint in ihren Stücken Tanz, Sprache, Musik, Artistik und Humor

Es war bei einem Elternabend in einem Leipziger Gymnasium, und da hieß es nicht, "Frau Müller muss weg" (wie in der Komödie von Lutz Hübner), sondern "Crystal Meth muss weg". Heike Hennig, Tänzerin, Choreografin, Regisseurin und außerdem Mutter dreier Söhne, wovon einer besagte Schule besuchte, notierte sich den Namen der in der Stadt gerade kursierenden Modedroge auf einem Notizzettel. Und dann gleich noch einmal und noch einmal, weil die anwesenden Eltern ihre Sorgen fast panisch wiederholten. Am Ende der Sitzung war das Blatt voll mit diesem Begriff, und sie wusste: Darum wird sich mein nächstes Projekt drehen!

"Ja, die Themen fliegen mir meist einfach zu", beschreibt Heike Hennig ihre Methode, die Welt künstlerisch auszu­loten. Und so kam "Crystal" als Sprech- und Tanz-Theaterstück 2014 auf die Bühne des Theaters der Jungen Welt Leipzig, dessen Programm sich vor allem an Kinder und Jugendliche richtet. Als exemplarische Produktion für genreübergreifendes Theater erhielt es 2015 den mit 80 000 Euro dotierten Theaterpreis des Bundes, ein Jahr später den Preis des Sächsischen Theatertreffens.

Offen für die Zeit und die Menschen sowie für Einflüsse jeder Art entwickelt Heike Hennig ihre Stücke und überlegt von Fall zu Fall, wie sie diese am besten umsetzen kann. Grenzüberschreitungen scheinen ihr im Blut zu liegen, seit sie mit ihrem damaligen Ehemann 1989 aus der DDR über Ungarn in die Bundesrepublik flüchtete. Er wollte nicht zur Armee, und sie wollte "endlich Pistazien riechen", denn sie war damals Stammgast in der Stadtbibliothek und las, was ihr dort in die Finger geriet. Die Romane von Gabriel García Márquez etwa zauberten ihr die Gerüche Südamerikas in die Nase und ins Gehirn.

Diese Fantasien wollte sie irgendwann real werden lassen. Also entschloss sich das junge Paar zu einem neuen Leben im Westen. Hennig studierte in Köln Germanistik, modernen Tanz und Choreografie, ehe sie nach San Francisco zog, wo das Fach Performing Arts folgte. Sie reiste – „endlich!“ – durch die Welt, arbeitete in Brasilien und Portugal.

Den Kontakt nach Leipzig, wo sie 1966 geboren wurde, ließ sie nie ab­reißen. 1998 kehrte sie in ihre geliebte Heimatstadt zurück und gründete das Forum Zeitgenössischer Tanz und ­Musik, in dem sie, zusammen mit Künstlern aus anderen Bereichen, Bühnenwerke und interdisziplinäre Kunstprojekte kreierte, die dann andernorts aufgeführt wurden. "Tanz allein ist mir zu wenig", hatte sie schon früh erkannt, "ich bin ein Freigeist und brauche viele verschiedene Anregungen, Impulse und Ausdrucksmöglichkeiten."

In ihren Stücken robben die Musiker schon mal bäuchlings auf die Bühne, weil es in "Kriech" (2017) um Krieg geht – und dem kann sich eben keiner entziehen. Angeregt durch den Roman "Der Gott der kleinen Dinge" von Arundhati Roy schuf sie 2004 das "Estha"-Ballett für vier Tänzer, das den Codes der Macht und der Architektonik von Hierarchien nachspürte.

Dafür recherchierte sie eine Woche lang in der Leipziger IBM-Niederlassung und ­beobachtete die Arbeiter, wie sie ihren Büroalltag bewältigten. In "Zeit – tanzen seit 1927" konn­te sie 2006 vier zwischen 1927 und 1943 geborene ehemalige Tänzer der Oper Leipzig aus dem Ruhestand locken und motivieren, sich trotz Alter und mangelnder Übung erneut in ihrem Beruf zu betätigen. Betagte Körper mit ein­geschränktem Aktionsradius sieht man sonst nicht im Tanztheater, doch der Mut der Akteure lohnte sich. Das ­Publikum war begeistert, und Arte dreht einen Film über die Aufführung.

Was ist das Wichtigste bei derartigen Produktionen? "Unbedingt und vor allem bewegliche Geister", so Hennig, und die sucht sie sich überall zusammen, steckt sie mit ihrer Leidenschaft an. Bei den Proben wird nicht nur Yoga zum Aufwärmen gemacht, sondern stets viel gelacht. Obwohl ihr die Weltlage mitunter auf die Laune schlägt, will sie sich nicht unterkriegen lassen: "Wir können nicht alle trüb werden, gerade jetzt nicht! Wir müssen aufstehen und etwas tun!" Dabei schlägt sie auf den Tisch und hat schon wieder dieses Funkeln in den Augen, das sie begleitet, wenn sie von ihrer Arbeit spricht – dem kommenden Stück "Angela, Ursula, Monika" zum Beispiel, in dem sie drei Politikerinnen in den Mittelpunkt rücken wird.

Was soll's denn werden, ein Dokudrama, eine Staatsanalyse, eine Frauenlegende? "Eine Mischung aus all dem wahrscheinlich", das kann sie bereits verraten, obgleich das Konzept noch nicht fertig ist. Wie bezeichnet sie selbst eigentlich das, was sie veranstaltet? Da rutscht die Sächsin sprachlich kokett ein bisschen ins Sächsische hinüber, das auch der Leipziger Richard Wagner nie ganz abgelegt haben soll, und sagt ­unbescheiden humorvoll: "Gesamtkunstwerke, was sonst."