Daniel Libeskind wird 70

Berlin braucht in der Architektur mehr Mut

Kenia, Singapur, Mailand, Tel Aviv - überall auf der Welt hinterlässt Daniel Libeskind seine Handschrift. Seine wohl berühmteste Baustelle liegt am neuen World Trade Center. Hier, schwärmt der Architekt im dpa-Interview, wird in 30 Jahren das neue Herz New Yorks schlagen

Es gibt viel zu tun. Daniel Libeskind hat seine Mitarbeiter versammelt und sich neben die Bürostühle gehockt, die Gruppe wirkt konzentriert. Sein neues New Yorker Studio ist - wie viele der laufenden Projekte - eine Baustelle. Männer vermessen den Konferenzraum, Architekturmodelle stehen auf dem Boden. Drei Gehminuten entfernt ziehen Bauarbeiter Turm Drei des neuen World Trade Center hoch. Vor seinem 70. Geburtstag am Donnerstag (12. Mai) spricht der Architekt mit der Deutschen Presse-Agentur über die berühmte Skyline, tote Städte und warum Berlin endlich mutiger werden muss.

Herr Libeskind, bei der Menge und Größe Ihrer Projekte muss man meinen, das Talent zur Architektur sei Ihnen in die Wiege gelegt worden. Wie sind Sie überhaupt dazu gekommen?
Ich habe keine Ahnung, ich werde das oft gefragt. Ich war erst professioneller Musiker und bin dann aus verschiedenen Gründen in die Mathematik abgedriftet. Ich habe immer gezeichnet und liebte es, zu malen. Aber als das Auswahlgremium der Universität Cooper Union fragte, warum jemand mit meinem wissenschaftlichen Hintergrund ein Architekt werden wollte, hatte ich keine Antwort.

Und dann hat es trotzdem geklappt. Welches Projekt ist Ihnen im Rückblick am meisten ans Herz gewachsen?
Mein erstes Projekt war das Jüdische Museum in Berlin. Ich hatte vorher nicht eine einzige Sache gebaut, nichts. Das wird immer mein erstes Kind sein. Aber an Ground Zero (dem Ort der Anschläge vom 11. September 2001, d. Red.) bin ich jetzt so viele Jahre beteiligt.

Der "New Yorker" schrieb, von Ihrem Originalentwurf sei nicht mehr übrig geblieben als die symbolische Höhe des Hauptturms von 1776 Fuß, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung der USA.
Das ist eine banale Lesart, es gibt viel mehr. Alles an diesem Standort folgt meinen Zeichnungen sehr genau: Die Beziehung und Lage und Höhe der Gebäude, der Charakter der Straßen, die Größe des öffentlichen Raums, die "Fußabdrücke" mit den Wasserfällen.

... trotzdem ist das "One World Trade Center", das als kalt und furchteinflößend kritisiert wurde, von Ihrem Entwurf weit entfernt.
Bei einem Masterplan geht es nicht um ein Gebäude, es geht darum, eine ganze Nachbarschaft zu ergründen. Mein Plan wurde nicht wegen der ästhetischen Form eines Turms gewählt.

Haben Sie je darüber nachgedacht, auszusteigen?
Niemals. Es gab Meinungsverschiedenheiten und starke Kräfte und Geld in New York. Was ich geschafft habe, ist, einen Konsens zu bilden. Sonst wäre der Standort nie gebaut worden, er wäre zerrissen worden von den Kräften der Wirtschaft, der Macht, der Politik.

Wie fühlt sich das neue World Trade Center heute an?
Es fühlt sich fantastisch an. Drei Wolkenkratzer sind fast fertig. 150 000 Menschen sind ins südliche Manhattan gezogen, seit ich die Arbeit aufgenommen haben. Als ich anfing, wollte niemand hier sein. Jetzt realisieren die Menschen, dass dies ein cooler Ort ist, mit dem Hudson und dem East River in der Nähe. Große Einzelhändler und Hotels ziehen ein, und ich glaube, in den nächsten 30 Jahren wird dies das Zentrum von New York sein. Auch der neue Bahnhof von Santiago Calatrava hat viel Charakter, er ist ein Bezugspunkt.

Und er ist mit vier Milliarden Dollar doppelt so teuer geworden wie geplant und wurde sieben Jahre zu spät fertig. Man fühlt sich an den Berliner Flughafen und die Elbphilharmonie erinnert.
Es ist ein sehr, sehr teures Gebäude, das wissen wir alle. Ein Tempel. Wir brauchen mehr Transparenz. Ob der Calatrava-Bahnhof, die Hamburger Philharmonie oder was auch immer: Die hart verdienten Steuern der Menschen bezahlen dafür und nicht irgendein Mäzen. Das ist nicht fair. Der Flughafen in Berlin ist schrecklich, weil Berlin eine kluge Stadt ist voll kluger Menschen. Es ist die alte Art, Geschäfte zu machen.

Was halten Sie von der modernen Architektur in Berlin?
Ich würde sie nicht mal als moderne Architektur bezeichnen. Es ist eine Art Stil als Antwort auf Bestimmungen, die nach dem Mauerfall erlassen wurden. Es ist die Stadt von (Ex-Senatsbaudirektor Hans) Stimmann, der in der Regel mächtiger ist als der Bürgermeister. Viele Architektur in Berlin wurde einfach aus Gewohnheit gemacht.

Nehmen wir als Beispiel den Potsdamer Platz.
Er ist eine Simulation, als ginge man durch eine Virtual Reality in 3D. Er wurde mit einem Computer entwickelt und aus einem Computer gebaut. Er hat nicht die Temperatur, das Adrenalin und die Lebenskraft Berlins. Berlin ist eine Metropole, im Film von Fritz Lang, Marlene Dietrich, den Ideen von Max Reinhardt.

Aber das ist die Metropole der 1920er Jahre.
Exakt. Eine moderne Metropole braucht mehr Mut, mehr Risiko. Man wird die Stadt stark überarbeiten müssen, um die Straßen wieder lebhafter zu machen und damit es sich wieder wie Berlin anfühlt und nicht wie irgendein Vorort von Texas.

Würden Sie das Tempelhofer Feld bebauen?
Auf jeden Fall. Sicher, das Flughafengebäude ist eine Art Ikone der Nazi-Architektur, aber nicht als heiliger Bau, der mit diesem riesigen Feld als historische Stätte erhalten werden sollte. Diese Nostalgie ist nicht gut für Berlin. Berlin muss kreativ und innovativ sein und mit Blick auf die Architektur radikale Dinge tun.

Was wäre denn Ihr Vorschlag für das Tempelhofer Feld?
Ich würde eine bezahlbare Stadt bauen für Kinder, Familien und Menschen, die sich bestimmte Gegenden nicht leisten können. Ich plane ja auch noch Sozialwohnungen in Berlin, wir suchen noch das richtige Stück Land. Berlin braucht höhere Gebäude. Keine nachhaltige Stadt kann es sich leisten, nur 22 Meter hoch zu bauen, einfach nach Brandenburg zu expandieren und alle großen Flächen freizulassen.

Und in New York, sind die "Supertall"-Wolkenkratzer über der Marke von 300 Metern der nächste Schritt?
Ich hoffe nicht. Es kann sein, weil jedes Stockwerk ein Ort zum Leben für einen Oligarchen oder Scheich ist. Kein wirklicher New Yorker wird jemals 50 Millionen Dollar zahlen können. Der historische Erfolg von Städten lag darin, dass sie vielfältig waren. Wer eine Stadt nur für die Reichen entwickelt, wird versagen. Sehen Sie sich Monte Carlo an. Man geht dort spazieren und es ist dunkel, niemand lebt dort. Das sind nur Steueroasen, solche Städte will man nicht. Man will Städte, die lebendig sind.

ZUR PERSON: Daniel Libeskind gehört zu den einflussreichsten Architekten seiner Zeit. Der 1946 im polnischen Łódź geborene Sohn jüdischer Eltern wanderte mit ihnen nach Israel und 1959 nach New York aus. Nach einem Architekturstudium lehrte er als Professor in Harvard und Yale sowie in Toronto, London, Zürich und Tokio. Erst 1989 begann er mit dem Zuschlag für den Bau des Jüdischen Museums in Berlin seine Karriere als Architekt. Weltweit setzte er mehr als 45 Projekte um, rund 50 sind derzeit in Arbeit. Sein Masterplan für Ground Zero verhalf ihm 2003 zum endgültigen Durchbruch. Libeskind betreibt Studios in New York, Zürich und Mailand und entwarf auch Möbel und andere Designprodukte. Er lebt mit seiner Frau Nina in New York und hat drei erwachsene Kinder.