Berlin-Fotos aus den 90ern

Was kostet die Welt?

Das Sujet "Berlin in den 90ern" ist inzwischen zum nostalgischen Techno-Klischee geronnen. Umso interessanter ist eine Ausstellung im C/O Berlin, die die Dekade aus der Perspektive von Ostkreuz-Fotografen in all ihrer Widersprüchlichkeit auffächert

Auf dieses Bild möchte man eine Wette abgeben: Ein Mann steht im Winter 1990 auf der eisigen Mauerbrache am Potsdamer Platz und versucht, einen Drachen aufsteigen zu lassen. Im Hintergrund sieht man ein Autowrack und die in tiefes Berlin-Grau gehüllten Plattenbauten an der Wilhelmstraße. Im Kopf formiert sich die Frage: Wird der Aufstieg klappen oder bleibt der Segler am Boden? Und wie stehen heute, im seit 35 Jahren wiedervereinigten Deutschland, die Quoten auf Höhenflüge beziehungsweise auf Resignation?

Die Aufnahme der Fotografin Sibylle Bergemann ist Teil der Ausstellung "Träum weiter – Berlin, die 90er" im C/O Berlin, deren Titel unbedingt in seiner Zweideutigkeit zu verstehen ist. Denn die Schau ist keine weitere Nostalgie-Veranstaltung. Sie erzählt nicht noch einmal verklärend vom Mythos der Nachwendezeit, als angeblich die ganze Stadt eine Spielwiese für Kunst und Nachtleben war. Diese Story kennt man mittlerweile auch in Sindelfingen und Singapur, sie taugt sicher noch eine Weile für Marketing, Instagram oder kommerzielle Fotogalerien, die ein paar "Originalabzüge" von verstrahlten Raver-Kids in Abrisshäusern zeigen. Die gleichen Posen, die gleichen Codes, schön war’s. 

Aber es war nicht alles. Die C/O-Ausstellung speist sich aus Arbeiten von neun Mitgliedern der Agentur Ostkreuz, die mitten in der Umbruchsstimmung im Jahr 1990 von Fotografinnen und Fotografen aus der ehemaligen DDR gegründet wurde. Es gelingt ihr, die Dekade aus den retromanischen Verengungen zu befreien und jenen merkwürdigen Transitraum zwischen Vergangenheit und Zukunft zu vergegenwärtigen, der gleichermaßen aufregend, beängstigend und widersprüchlich war. Genau dadurch regt sie dazu an, Zeitgeschichte mit der Gegenwart, die Gefühle und Hoffnungen von damals mit der Stimmung von heute abzugleichen: Alles schien damals möglich; vieles kam anders, im Guten wie im Schlechten.

D-Mark-Scheine als Reliquien

Am Anfang steht pure Euphorie. Werner Mahler ist am 9. November 1989 mit dabei, als jubelnde Massen die Mauer erklimmen und durchs Brandenburger Tor strömen. Der Fotograf läuft quer durch die ganze Stadt, vom Grenzübergang an der Bornholmer Straße bis zur feiernden Menschenmenge auf dem Kurfürstendamm. Umarmungen, Freudentränen, Glückstaumel. 

Im Jahr darauf begleitet Ute Mahler den Politiker Ibrahim Böhme im Wahlkampf – jenen charismatischen Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, der für kurze Zeit als Hoffnungsträger all jener galt, die an Reformen in der Deutschen Demokratischen Republik glaubten, an einen "Dritten Weg". Doch er wurde noch im selben Jahr als Stasi-Spitzel enttarnt.  

Tatsachen wurden derweil auf anderem Wege geschaffen: Noch vor der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten gibt es eine gemeinsame Währung. Harald Hauswalds Serie "Eine harte Währung" zeigt, wie Menschenmassen auf dem Alex eine Bankfiliale stürmen, wie D-Mark-Scheine als kapitalistische Reliquien gen Himmel gestreckt werden, wie sich über Nacht Supermarktregale mit Westwaren füllen. Aber er zeigt auch die sorgenvollen Gesichter der Belegschaft des VEB Narva während einer Versammlung zur Auflösung ihres Produktionsstandortes.

Die Brust platzt fast vor Stolz

An die architektonischen Umbrüche der Stadt erinnern Aufnahmen vom Leben in besetzten Häusern und von deren Räumungen durch die Polizei, von der mit Grundwasser gefüllten, seegroßen Baulücke am Potsdamer Platz und den Menschen, die bald darauf verloren durch die Neubauten irren. Während die Volksbühne ihre Räume für das Obdachlosen-Theaterprojekt "Ratten 07" öffnet, führt Gerhard Schröder durchs neue Kanzleramt, die Brust platzt fast vor Stolz. 

Die Alliierten verlassen die Stadt: Großer Zapfenstreich am Brandenburger Tor für die US-Armee; Rotarmisten besteigen einen Zug am Ostbahnhof. Das Ende des Kalten Krieges? Heute, mitten in einem neuen, gar nicht so kalten Krieg, wissen wir es besser.

Die Techniken und Ansätze der beteiligten Fotografinnen und Fotografen unterscheiden sich, das Spektrum reicht von Farbe bis Schwarz-Weiß, von spontanen Schnappschüssen bis zu konzeptuellen Serien, von freien Projekten bis zu Auftragsarbeiten für Magazine. 

Immer gilt der Blick den Menschen und den Verhältnissen

Doch nie wollen die Bilder ästhetisch überwältigen, immer gilt der Blick den Menschen und den Verhältnissen, die sie prägen; der genauen, kritischen Beobachtung, wie sich Möglichkeiten zu Tatsachen wandeln, Räume verschwinden, Träume platzen. Ein neuer Spirit bemächtigt sich der Stadt: Investoren telefonieren am Handy vor Baugruben, das Adlon lädt gutbetuchte Gattinnen zum "Ladies-Lunch" – die Stadt wird zur Beute.

Der spezifische Ostkreuz-Ansatz wird besonders in den Serien über ein Thema deutlich, das fotografisch bestens bekannt ist und den Mythos Berlin bis heute befeuert: Die Techno-Szene. Ganz anders als in den ekstatischen, von teilnehmender Euphorie getragenen Bilder eines Werner Amann oder Wolfgang Tillmans, ist der Ostkreuz-Blick auf Loveparade und Clubszene mindestens zweideutig. 

In einem Foto von Annette Hauschild, die die Ausstellung zusammen mit Boaz Levin vom C/O Berlin kuratiert hat, steht ein Raver auf einem Truck der Love-Parade 1991. Er trägt Sonnenbrille, Fetisch-Höschen und sonst wenig. Er streckt seine offenen Hände Richtung Fotografin in dieser liebevollen, einladenden, selbstverständlichen Geste: Was kostet die Welt? Die Antwort geben die Baugerüste, die sich hinter ihm aufbauen.