Es war einmal, da hatte das Treiben hinter Bauzäunen den Nimbus von Emsigkeit und Effizienz. Heute ist selbst die Metapher vom Leben als Dauerbaustelle veraltet (so ähnlich hieß ein Film mit Jürgen Vogel in der 1990er-Gründerzeit), auf welcher sich ja noch irgendwas tat, worauf man allerdings lange warten musste. Seit ein Berliner Beinahe-Flughafen seiner ungewissen Zukunft entgegendämmert, steht die Baustelle für, ja für was ... gar nichts?
Baustellen-Equipment, mit dem nichts Praktisches mehr zustande kommt, taugt immerhin als Readymade. In der Kunst wird Bullshit zu Gold. Die in Stockholm geborene Künstlerin Sofia Hultén hat eine unter bauwirtschaftlichen Aspekten sinnfreie Installation mit dem Titel "Unstable Fakers of Change in Self" in das längst stillgelegte (!) Maschinenhaus M0 der ehemaligen Berliner Brauerei gewuchtet. Im Kindl - Zentrum für zeitgenössische Kunst hat Hultén neun verschieden hohe Baugerüste im Raum verteilt. In jeder der Skulpturen wiederholt sich ein Kernrepertoire bestimmter Gegenstände: Neben dem Gerüst sind es Baunetz, Rundschlinge, Blecheimer, Holzplatte, Kabelbinder, 20-Cent-Münzen.
Die Künstlerin, die in Birmingham aufwuchs, heute in Berlin lebt und an der Braunschweiger Hochschule für Bildende Künste lehrt, ist bekannt dafür, ihr Material gleichsam auf der Straße aufzulesen. Eine ältere Hultén-Videoarbeit wird im Kindl knapp unter der Raumdecke projiziert: In den 72 Minuten des Films "Past Particles" von 2010 zeigt Hultén in sekundenkurz durchgezappten Einzelbildern den Inhalt eines gefundenen Werkzeugkastens. Nagel, Dübel, Flügelmutter, Schraube, Unterlegscheibe und so weiter. Minimalismus aus dem Hobbykeller.
Mutmaßlich inspiriert von Fischli/Weiss legendärem Perpetuum-Mobile-Video "Der Lauf der Dinge" von 1987 werden die Materialien auf den Baugerüst-Skulpturen in Bewegung versetzt. Was real dort steht und liegt, ist zugleich auf ins Gerüst integrierten Videoschirmen zu sehen. Die Performerin, von der man höchstens die Hände sieht, stopft zum Beispiel ein Baunetz in einem Eimer. "Absurde Routinen" heißt eine parallel laufende Foto-Gruppenschau - Hulténs dadaistische Handlungen möchte man ebenso nennen. Malerisch-abstrakt wirkt es, wenn eins der blauen Netze auf einem anderen Bildschirm in Mörtelschlamm versinkt. Rundschlingen pendeln durchs Bild. Geldmünzen fliegen scheppernd in Blecheimer. Woanders färbt Sprühlack ein metallgraues Gerüstteil bronzefarben. Die Installation ist zugleich eine Soundarbeit: Es zischt, klickt und klackert, hämmert und schnarrt. Die Maschinenhalle wird akustisch wiedererweckt.
Wer den Begleittext zur Ausstellung liest, erfährt, dass sich die Künstlerin auf eine Plastik von Umberto Boccioni bezieht. 1913 schuf der italienische Futurist die Bronze eines Schreitenden, der in teils wellenförmigen, teils gezackten Bewegungsmustern förmlich zu verschwinden droht. Heute befindet sich die Bronze "Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum" im New Yorker Museum of Modern Art. "Unique Forms of Continuity in Space" - aus den Anfangsbuchstaben des englischen Werktitels leitet Hultén ihre Ausstellungsüberschrift "Unstable Fakers of Change in Self" ab. Damit nicht genug der Konkreten Poesie, denn jede Gerüst-Skulptur trägt einen aus den Lettern U-F-o-C-i-S generierten Titel: Auf dem Video zur Arbeit "Unfortunate Fiends of Clowns in Shit" etwa versinkt ein halbes 20-Eurocent-Münzen in Zementschlamm. Auf den Münzen trifft man Boccionis eiligen Mann wieder, denn Hultén verwendet ausschließlich italienische 20-Centstücke mit der Skulptur als Münzenkopf.
Die Futuristen berauschten sich an Geschwindigkeit, träumten von einer dynamischen, aggressiven, kriegerischen Zukunft. Das verbindet die Künstler von damals mit einigen Populisten von heute. Hulténs Baustellen-Installation, so minimalistisch-verspielt sie sich geben mag, kann durchaus als Kommentar zur europäischen Misere, zu hochverschuldeten Staaten und irren Haushaltsentwürfen aus Italien gelesen werden, kurz: zur "Flüssigen Moderne", vor der der Soziologe Zygmunt Bauman warnte.
Es kann ja wirklich sein, dass wir uns auf ein Leben in der Investitionsruine gefasst machen müssen.