Ein Nachtlauf. Die Kamera folgt nackten Füßen auf Asphalt, das könnte eine Flucht sein. Aber die Stimme des nigerianischen Schauspielers Charles Onyedieke klärt uns gleich am Anfang des Films "Freedom of Movement" (2018, 29 Minuten) darüber auf, dass es hier um Abebe Bikila geht.
Beim olympischen Marathon 1960 in Rom gewann der Äthiopier, der barfuß lief, die erste Goldmedaille für ein afrikanische Land. Der 28-minütige Film des Duos Nina Fischer und Maroan el Sani ist dreigeteilt. Historisches "Footage" (welch passender Begriff) von Bikilas Triumph dominiert am Anfang. "I replay. I replay. I replay the footage of Abebe Bikila", sagt Onyedieke mehrmals im Off, gebetsmühlenartig. Dann sehen wir das Re-Enactment des Laufs. Auf dem Shirt von Soumaila Makadji prangt Bikilas Startnummer 11. Er startet nicht vom römischen Kapitolsplatz, was historisch korrekt wäre, sondern vom Mittelmeerstrand bei Rom. Genauer: Makadjis Füße sind zuerst im Wasser zu sehen, in der Nähe des Läufers schwimmt eine goldglänzende Rettungsdecke – Symbol tragischer Schicksale und eines ungelösten Jahrhundertproblems.
Makadjis Lauf durch die Via Appia und am Obelisken von Axum vorbei entspricht der alten Marathonstrecke. Vor dem Obelisken zog Bikila 1960 das Tempo zum Endspurt an. Es handelt sich um Raubkunst – die äthiopische Stele wurde 1937 im Auftrag Mussolinis nach Rom gebracht. Im dritten Kapitel erklimmt eine Schülergruppe – Jugendliche, die aus Afrika geflüchtet sind – das Colosseo Quadrato im EUR-Gelände und stimmt ein Chorlied an. "Freedom of Movement" – das bleibt eine Utopie. An den Filmschluss setzen Fischer und El Sani aber erstmal eine Dystopie: Ein Irrlauf durch ein computergeneriertes Alptraumgelände, in dem nichts als Colosseo-Quadrato-Klone herumstehen.
Sich wandelnde Orte und ihre politischen Implikationen
Im Mittelpunkt der Filme und Installationen von Fischer und El Sani stehen sich wandelnde Orte und ihre politischen Implikationen. Nina Fischer, 1965 in Emden geboren, und Maroan el Sani, der 1966 in Duisburg zur Welt kam, trafen sich Anfang der 1990er in Berlin, als die Stadt im Turbogang mutierte. Auf der Website des Hauses am Waldsee sind im wöchentlichen Wechsel nun Filme der beiden zu sehen. Neun Werke aus 25 Jahren hat Waldsee-Chefin Katja Blomberg ausgewählt, jeden Mittwoch wechselt das Programm. Ausgehend vom Berliner Stadtschloss und der deutschen Kolonialvergangenheit entwickelten Fischer und El Sani 2015 den Knetfigurenfilm "Der Dreisatz der Identität", der vom 21. bis 27. April abrufbar ist.
"Contaminated Home" (2021, ab 28. April auf der Website) zeigt die Privatfotos einer Familie aus Fukushima, die nach der Atomkatastrophe vom März 2011 ihr Haus verlassen musste, in Form einer Diaserie. Ebenfalls in Japan wurde "Spelling Dystopia" (2008) gedreht, ein Filmessay über die unglaubliche Geschichte der Insel Hashima, einem halb künstlichen Eiland, unter dem ab 1887 Kohle abgebaut wurde, das im Zweiten Weltkrieg als Kriegsgefangenenlager diente und in der Nachkriegszeit einen Rekord an Bevölkerungsdichte hielt: Über 5000 Menschen lebten auf der nur 160 mal 450 Meter kleinen Insel. Als die Zeche 1974 geschlossen wurde, mussten die Bewohnerinnen und Bewohner das Gebiet verlassen. Einer von ihnen erinnert sich an seine Jugend auf der heutigen Geisterinsel Hashima. Auf einer zweiten Ebene erzählen Jugendliche den grausamen Zukunftsfilm "Battle Royale" nach, der dort gedreht wurde: Manchmal wird Fiktion gebraucht, um Erinnerung wachzuhalten.
Ihren kafkaesken Kurzfilm "The Rise" (2007, ab 12. Mai) drehten Fischer und El Sani an einem Bürogebäude von Raphael Vignoly, der mit dem Entwurf am Wettbewerb für das neue World Trade Center in New York teilnahm, seinen Turm dann aber in Amsterdam baute. Wie ein Extrembergsteiger bezwingt der Protagonist die umlaufende Außentreppe, passiert dabei verschiedene Wetterzonen – und trifft seinen Doppelgänger.
Damals mag Esoterik noch geholfen haben
Ab 19. Mai ist "Toute la mémoire du monde" (2006) zu sehen, eine filmische Elegie um die leeren Regale und den verlassenen Lesesaal der alten Bibiothèque Nationale de France in Paris. Mit "Klub 2000" (1998, ab 26. Mai), einer 11-minütigen Dreiecksgeschichte aus Marzahn um die Möglichkeitsformen einer Stadt, kehrt die Online-Retrospektive nach Berlin zurück. Und "Be Supernatural" von 1995 (2. bis 8. Juni) switcht weit zurück in die Frühgeschichte des Duos. Mit der 18-Minuten-Mockumentary endet die Filmreihe. Dort dichten sich Fischer und El Sani übersinnliche Fähigkeiten an, die unweigerlich zu ihrem Zusammentreffen in Berlin geführt haben sollen.
Der Film beginnt mit angeblichen Super-8-Dokumenten zweier telekinetisch begabter Kinder, die Löffel verbiegen und Schiffe versenken können. Am Schluss tanzt das erwachsene Künstlerpaar zu dem Discosong "Be supernatural". Der Satz steht auch auf Nina Fischers T-Shirt, während Maroan el Sani den Aufdruck "Concentrate your energy" trägt. Gute alte Wendezeit. Damals mag Esoterik noch geholfen haben. Heute schreibt man sich besser das Stoßgebet "Be a Mensch" aufs Shirt – oder Abebe Bikilas Nummer 11: In der Hoffnung, die Menschheit möge Sprünge machen.