Auf den ersten Blick mag es verblüffen, in London auf eine Baselitz-Ausstellung zu stoßen. Georg Baselitz, ein Maler und Bildhauer, dessen Werk eher als "teutonisch" eingestuft werden könnte, scheint nicht unbedingt ins internationale, zumal britische Weltbild zu passen. Aber das ist ein ignorantes Vorurteil. Baselitz, inzwischen 85 Jahre alt, ist in London nicht nur kein Unbekannter, sondern, im Gegenteil, durch zahlreiche Galerie-Ausstellungen und als Honorary Member der Royal Academy nicht zuletzt als "Künstlerkünstler" renommiert. Kein Wunder daher, dass er jetzt auch in der Serpentine Gallery einen gelungenen Auftritt hat. Die von Hans Ulrich Obrist nebst Team kuratierte Schau füllt sämtliche Räume des Hauses.
Gezeigt werden neben rund 70 Zeichnungen elf, meist überlebensgroße Holzskulpturen. Zehn Arbeiten stammen aus dem Atelierdepot des Künstlers und waren nie zuvor öffentlich zu sehen. Sie sind überwiegend vor rund einem Jahrzehnt entstanden und dokumentieren sämtlich den Werkprozess, der zu einer Serie von Bronzeskulpturen geführt hat.
Die mit der Kettensäge wie ungeschlacht aus den Baumstämmen von Tanne oder Zeder gefertigten Statuen sind den zarten, das jeweilige Motiv in zahlreichen Varianten umkreisenden Blei-, Filzstift- und Tuschezeichnungen konfrontiert. Hier die mächtigen, jeweils aus einem Holz geschnittenen, hier und da leicht farbig gefassten Gestalten, dort die elegant gerahmten Blätter mit ihrem nervösen, das Motiv umkreisenden und die Form erkundenden Lineament.
Aus dem Archiv gelockt
Die Statuen haben als Modelle für den Bronzeguss gedient und hatten damit ihre Schuldigkeit getan, sodass sie im Dunkel des Archivdepots verschwinden konnten. Auch den Zeichnungen, die sich teils auf der Rückseite von Geschäftspapieren von Baselitz‘ Holzlieferanten befinden, hat der Künstler zunächst keinen eigenständigen Wert beigemessen. Sie halten als Notate die Suchbewegungen während der auch körperlich strapazierenden Arbeit an der künstlerischen Formung der Baumstämme fest. Erst im Laufe der Gespräche, die die Ausstellung vorbereitet haben, wurden sie aus dem hervorgeholt und im Blick auf das Konzept der Schau, das auf das Wechselspiel von Zeichnung und Skulptur setzt, im Sinne der dokumentarischen und ästhetischen Komplementarität als bestens geeignet erachtet.
Im Zentrum der Präsentation steht die menschliche Figur, sei es als Einzelgestalt ("Marokkaner“" 2012), als Paar ("Sing Sang Zero" 2011) oder als Trio ("BDM Gruppe", 2011). Die Titel der Werke helfen bei der Betrachtung nur bedingt weiter. Sprechend ist, zumal für den historisch informierten Besucher, die Abkürzung BDM für "Bund Deutscher Mädel". Die Skulptur zeigt eine untergehakte Dreiergruppe, junge Frauen, die als Aktfiguren nach Größe gestaffelt auf klobigen Plateaupumps ihrer Wege gehen.
Charakteristisch für die Epoche und NS-Organisation, die der Titel aufruft, ist das Motiv der verschränkten Arme als Zeichen der Gemeinschaft. Ob es sich im engeren Sinn um eine politische Skulptur handelt, sei dahingestellt. Baselitz hat als Ausgangspunkt, wie es im Katalog heißt, eine Erinnerung gewählt, die seiner Schwester und deren Mitgliedschaft in der weiblichen Hitlerjugend galt. Es ist aber vermutlich eher allgemein das Zeichen von Verbundenheit, Reihung und Wiederholung, das den Bildhauer ikonografisch und formal, nicht zuletzt mit Bezug auf das Modell der mythologischen drei Grazien, beschäftigt hat.
Leitmotiv Verknüpfung
Verbindung oder Verknüpfung sind Leitmotive der in der Serpentine Gallery versammelten Skulpturen. Mehrfach umspielt wird das Thema Bund oder, dinglich gefasst, "Bündel". So lautet auch der Titel einer Skulptur aus dem Jahr 2015. Sie zeigt zwei von vier kräftigen Holzreifen zusammengefasste hölzerne Stelzen, eine Abstraktion des menschlichen Körpers, wie man den hochhackigen Schuhen, in die sie münden, entnehmen kann.
Dieses Spiel mit den Ringen, die technisch für Verklammerung, symbolisch vielleicht für Kontakt und Umklammerung stehen, erprobt Baselitz in mehreren Varianten. Mit der Betonung der Rundform verweist das Verfahren einerseits auf den Baumstamm als Ausgangsmaterial, wirft aber zugleich die erstaunte Frage auf, wie es handwerklich gelingen kann, diese Rollring-Struktur fachgerecht mit der Motorsäge ins Werk zu setzen.
Aus dem "Bündel" ist motivisch noch im selben Jahr die in der Ausstellung ebenfalls gezeigte, mehr als drei Meter hohe Skulptur "Zero Dom" erwachsen. Jetzt sind es allerdings vier beschuhte Stelzen, die im Kreis angeordnet sind und von einem dünnen Draht anstelle eines Holzrings zusammengehalten werden. Aus dem Motiv der Schuhe und aus der zirkularen Anordnung ergibt sich ein Sujet, das sich als "erstarrte Bewegung" oder "eingefrorener Tanz" bezeichnen ließe.
Verweis auf den Nullpunkt
Eine andere Skulptur erweist diesem Motiv bereits mit dem Titel "Louise Fuller" seine Reverenz, der den Namen der berühmten amerikanischen Tänzerin Loïe Fuller der 1920er-Jahre aufruft. Vier Holzreifen sind um die Hüfte einer ausgreifend gestikulierenden weiblichen Figur gelegt. Sie erinnern an das Modell Hula-Hoop, dessen Vorläufer bis in die griechische Antike zurückreichen.
Zurück zum Titelzusatz "Zero". Er findet sich häufiger im Baselitz'schen Oeuvre und bezieht sich zunächst direkt auf den Farbenhersteller gleichen Namens, von dem der Künstler viele seiner Materialien bezieht. Darüber hinaus ist es aber ein ironisch-spielerischer Verweis auf den Kontext Atelier, das künstlerische Schaffen "ex nihilo" und dessen handwerkliche Fundierung. "Dom" hingegen meint wie im Englischen dome Kuppel oder Haube. Im Zusammenspiel der vier verschlankten und beschuhten Holzstämme ergibt sich eine architektonische Skulptur oder auch ein skulpturales Bauwerk, das einem spitzen Zelt oder auch einem Duckdalben ähnlich eine Art Schutzraum bereitstellt.
Diesem hölzernen "Dom" innerhalb der Galerie antwortet unmittelbar vor dem Gebäude platziert eine über neun Meter hohe, schwarz patinierte Bronzeskulptur gleichen Titels. Sie ist als ins Große gesteigertes Nachbild dem Vorbild entsprungen und hat sich auf dem Weg des Gusses schließlich in eine Plastik verwandelt, die das skulpturale, bildhauerische Element nur noch in ihrer Außenhaut zur Schau stellt.
Metamorphose von Holz zu Bronze
Die technische Metamorphose von Holz zu Bronze, von hell zu dunkel und schmächtig zu mächtig lädt zunächst zu Vergleichen in Bezug auf die Wirkung ein. Eine gewisse Einschüchterung durch die denkmalgleiche Monumentalität hier und schlichter Respekt vor der Größe dort. Zur Frage von Verständnis oder Bedeutung ist damit noch nichts gesagt.
"Zero Dom", so der Künstler erläuternd in einem Interview mit "The Art Newspaper", "ist kein Blick in die Zukunft, sondern beschreibt das, was wir als deutsche Vergangenheit wahrnehmen: Ein abgebranntes Gebäude. Zero Dom war zunächst eine kleine Holzskulptur aus einzelnen Frauenbeinen von etwa 3 Metern Höhe. Es folgte eine schwarz patinierte, in Bronze gegossene Version. 2018 habe ich das Bühnenbild für Wagners Oper 'Parsifal' in München entworfen. Die Skulptur wurde Teil des Bühnenbilds, in vergrößerter Form. Der Heilige Gral war darin versteckt. Dann beschloss ich, einen 9 Meter hohen Bronzeguss daraus zu machen, der erstmals vor dem Institut de France aufgestellt wurde, als ich zum Mitglied der Académie des Beaux-Arts ernannt wurde."
Wiederum gibt es Hinweise auf einen politischen, einen mythologischen und einen biografischen Zusammenhang, aber es bleibt bei Assoziationen. Allerdings gehören solche Gedankenspiele auch zur Kunst des Betrachtens.
Eine Babyrassel ins Enorme gesteigert
Um ein anderes Beispiel anzuführen: Im letzten Raum der Galerie trifft man auf zwei weit ausgreifende Skulpturen, die das Thema Tod zum Gegenstand haben ("Zero Mobil" und "Zero Ende"). Die Werke sind einander aufs Engste verwandt, indem jeweils zwei große Schädel wie die Gewichte einer Langhantel an die Enden eines Stabes "gesteckt" sind. Die eine Skulptur ruht auf einem Paletten-Sockel auf, die andere hängt schwebend von der Decke herab.
Leere Augenhöhlen fixieren den Betrachter. Den Raum zwischen den Doppelköpfen füllen jeweils wieder hölzerne Ringe, das eine Mal sieben, im anderen Fall zehn. Sie bilden eine Art Brustkorb der Hantel, die zugleich aber auch ein eine ins Enorme gesteigerte hölzerne Babyrassel erinnert, sodass hier Leben und Tod von der Wiege bis zur Bahre verknüpft zu sein scheinen.
Die Betrachter sind gehalten, wie zumeist im Kontext der bildenden Kunst, sich über die von den Veranstaltern bereitgestellten Informationen hinaus ihren eigenen Reim auf das Angebot zu machen. Assoziationen helfen dabei auf die Sprünge. Die Kunstöffentlichkeit erst vollendet das Werk, ein Theorem, das Marcel Duchamp propagiert und das jüngst Oskar Bätschmann in seiner Publikation "Das Kunstpublikum" (Berlin, 2023) anhand zahlreicher Quellen historisch dokumentiert und analysiert hat.
Begegnung mit den Bäumen
Eine andere Möglichkeit, einem Kunstwerk zu begegnen, ist es, beim Augenschein zu verweilen und damit im vorliegenden Fall die Aspekte Reif und Bündel, die auch das Konvolut der Zeichnungen dominieren, näher ins Auge zu fassen. Es handelt sich dabei jenseits von vorder- oder hintergründigem Gehalt um zentrale Fragen, mit denen die Gattung Skulptur seit alters befasst ist – die Gestaltung von Raum und Volumen einerseits, sowie die Darstellung von Stillstand und Bewegung andererseits.
Beide Grundgedanken verbindet Baselitz in seinen Studien in Holz oder auf dem Papier. Die Zeichnungen ziehen aufgrund der Vielzahl der Variationen, die sie vor Augen stellen, mit den Skulpturen am Ende gleich. Im Hin und Her der Gattungen übersetzt der Besucher die Zeichnungen im Nachsinnen selbständig in Skulpturen und wird dadurch zu einem Assistenten oder gar Stellvertreter des Bildhauers. Dies ist eine der Erfahrungen, die sich in der Ausstellung machen lassen.
Die andere Erfahrung betrifft im Anschluss an den Ausstellungsbesuch die Begegnung mit den Bäumen in dem die Serpentine Gallery umgebenden Hyde Park, der als urban forest gilt. Man steht vor lauter imposanten Platanen, Kastanien und Eichen – und sieht sich plötzlich in einen Skulpturenpark versetzt. Durch die Ausstellung von Baselitz‘ Werk geschult, würdigt man die Giganten eines intensiveren, Hochachtung zollenden Blicks und erkennt in den Baumskulpturen bisweilen anthropomorphe Züge. Die Kunst hilft nicht zuletzt, die Natur neu zu sehen - kein schlechter Deal und ein großer Verdienst der eindrucksvoll strukturierten Schau.