Filmfest Venedig

Wenn das richtige Alter gekommen ist

Zwei erfahrene Regisseure, der eine enttäuscht, der andere liefert ab: Die neuen Filme von Alejandro González Iñárritu und Paul Schrader auf dem Filmfest Venedig

Gerade ist der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu 59 geworden. Vielleicht das Alter, um abgeklärt auf das eigene Leben zurückzublicken. Steht man nun die rund drei Filmstunden seines Wettbewerbsbeitrags "Bardo, falsa crónica de unas cuantas verdades" ("Bardo, erfundene Chronik einiger Wahrheiten") durch, kann man Iñárritu die Fabulierlust und die Verfügungsgewalt über raffinierte Tricktechnik zwar nicht absprechen. Doch die Kunst des (semi-)autobiografischen Erzählens gelingt dem Starregisseur (der mit "Birdman" schon einmal den Goldenen Löwen gewann) eher wenig.

"Bardo" ist ein höchst unbescheidener, mitunter geschwätziger Film, der einen wenig mit der Hauptfigur sympathisieren lässt. Erzählt wird von Silverio – Parallelen zu Iñárritu sind beabsichtigt –, einem in den USA gefeierten Journalisten und Dokumentarfilmer, der für die Auszeichnung mit einem renommierten Preis in seine mexikanische Heimat zurückkehrt. Die Identitätskrise, die ihn hier plötzlich heimsucht, geht auch an seinen fast erwachsenen Kindern und seiner Ehefrau nicht spurlos vorbei. Alle vier fragen sich, zu welchem der "Amerikas" man nun eigentlich gehört.

Anfangs wartet Silverio vor einem Kreißsaal auf die Geburt seines dritten Kindes. Doch der Kleine will in diese kaputte Welt nicht geboren werden – deren Kaputtheit Iñárritu bildmächtig heraufbeschwört, aber kaum mit der Lebensrealität seines Protagonisten verknüpft. Stattdessen werden die Wunder der zeitgenössischen Kinomaschine vorgeführt.

Von Silverio gibt es ein atemberaubendes Anfangsbild seines langen Schattens in der späten Wüstensonne, der einen Flugversuch nach dem anderen startet und schließlich wirklich abhebt. Das Baby, das trotzig im Mutterleib steckt, lugt hin und wieder doch aus dem Uterus heraus (das möchte man nicht sehen, aber Iñárritu knallt alles auf die Leinwand, was technisch geht). Als Silverio seinen toten Vater in einer Toilette trifft, wird der (übrigens sehr starke) Darsteller Daniel Giménez Cacho auf Hobbit-Größe geschrumpft. Und wie in "Birdman", der anscheinend in einer einzigen Einstellung gedreht war, geizt der Regisseur auch hier nicht mit Plansequenzen, bei denen einzelne Kameraschüsse rechnergestützt zu flüssigen Endlosfahrten gefügt wurden. Einfach so. Weil er es kann.

Gegen Filme, in denen Alltag und Traum ineinanderfließen, ist nichts zu sagen. Aber ein delirierender Filmemacher, der sein Publikum nicht mitreißt, hat ein Problem. Oder liegt die Crux eher darin, dass "Bardo" von Netflix produziert wurde, wo man eher auf den Wow-Faktor als auf die Kunst des Auch-mal-Weglassens setzt?

Dem anderen Regisseur scheint seit Jahren fast alles zu glücken. Die Rede ist von Paul Schrader, Jahrgang 1946, dem man wohl wirklich so etwas wie Altersmilde und -weisheit attestieren kann, obwohl der US-Amerikaner auch schon vor über 40 Jahren kluge Filme gemacht hat ("American Gigolo"). In Venedig hat er einen Lauf (ohne dass sich das in Preisen niederschlug), 2017 fesselte sein "First Reformed", vergangenes Jahr lief hier sein großartiger "Card Counter" im Wettbewerb. Dass keiner der beiden einen Löwen gewann, ist ein Rätsel. "Master Gardener" läuft in diesem Jahr außer Konkurrenz (weil Schrader nicht mehr antreten will?). Einen Goldenen Löwen hat er am Samstag ohnehin schon bekommen, für sein Lebenswerk. 

"Master Gardener" kreist um das Thema der Erlösung durch Liebe, wobei die Lovestory lange auf sich warten lässt. Aber gleich zu Beginn erzählt uns sinngemäß der Gärtnermeister Narvel Roth (einsilbig und eindringlich: Joel Edgerton), dass Menschen sich ändern können, weil die Natur sich auch dauernd ändert.

Eigenartigerweise wirkt auch der Vorspann, eine Revue sich öffnender Blüten, überhaupt nicht kitschig. In nüchternen Bildern werden wir in den Arbeitsalltag von Narvel eingeführt, der als Wachstumsdirektor des Gracewood-Anwesens, irgendwo in Louisiana, bald einen neuen Lehrling bekommt: Maya, die vielleicht 25-jährige Großnichte der Gracewood-Besitzerin Mrs. Haverhill (Sigourney Weaver). Auf ihre verstorbene Nichte, die mit einem Afroamerikaner durchbrannte, ist die wohlhabende Witwe nicht gut zu sprechen ("Sie hatte Tittenkrebs"). Auch Maya wird von ihr herablassend behandelt, obwohl es Mrs. Haverhills Idee war, Maya von Narvel in die Gartenkunst einführen zu lassen. Dass Maya und Narvel voneinander angezogen sind, erzürnt die Südstaaten-Lady dann sogar, schließlich schob der gutgebaute Narvel in ihrem herrschaftlichen Schlafzimmer regelmäßig Nachtschichten. Eine Vertreibung des Paars aus dem Blütenparadies ist wahrscheinlich. Dazu braucht Mrs. Haverhill, von Weaver mit kühler bitchyness gespielt, weder Erzengel noch Flammenschwert. Ein giftiges "I want you out" genügt.

Während Mayas Drogenprobleme für ihr Gewächshaus-Umfeld schnell auf der Hand liegen, weiß Narvel seine dunkle Vergangenheit vor Uneingeweihten zu verbergen. Sein Körper ist vom Halsansatz abwärts mit Nazi-Emblemen übersät. Bevor er sich aufs Gärtnern verlegte, war er als Auftragskiller für weiße Rassisten unterwegs. Mrs. Haverhill weiß, dass Narvel Zeugenschutz genießt. Und natürlich zieht Schrader einige Spannung aus der Frage, was Maya täte, wenn sie wüsste. Während sich die beiden näherkommen, gelingt es Narvel zunächst, seine Tattoos und damit seine Neonazi-Vergangenheit vor der jungen dunkelhäutigen Frau zu verbergen.

Wenn der Ex-Killer, der seine Pistole unter den Dielen seines Gartenhauses verbirgt, schließlich in den heruntergekommenen "Club" von Mayas Dealer und Zuhälter eindringt und ihm eine Lehre erteilt, erinnert das nicht zufällig an Robert de Niros brutalen Feldzug in Martin Scorseses "Taxi Driver" (1976), dessen Drehbuchautor – Paul Schrader heißt. "Taxi Driver" endet in einer Blutorgie und bitterböser Ironie. "Master Gardener" mündet in eine irreale Autofahrt des Liebespaars bei Nacht, während rechts und links von den rollenden Reifen eine wahre Blütenpracht erblüht. Sowas muss sich ein Filmemacher erstmal trauen. Wenn das richtige Alter gekommen ist, versteht sich.