Eine Szene von "Roma" spielt in einem Kino in Mexiko-Stadt. Die Kinowelt ist in diesem Rokoko-Filmpalast anno 1970 fast noch in Ordnung, aber schon vom Fernsehen bedroht. Über die Leinwand flimmert John Sturges’ "Marooned" – "Verschollen im Weltraum", während viele Besucher mehr miteinander als mit dem Schicksal der Astronauten beschäftigt sind: das Kino als Liebesnest. Das immersive 3-D-Spektakel von "Gravity" (auch hier gestaltet sich die Rückkehr aus dem Orbit schwierig) liegt noch Jahrzehnte in der Zukunft. Nun hat der Regisseur des Astro-Dramas mit Sandra Bullock oder des Sequels "Harry Potter und der Gefangene von Askaban" seinen bisher persönlichsten Film gedreht. Alfonso Cuarón geht nicht nur zurück zu Kino-Wurzeln wie "Marooned", der mexikanische Filmemacher widmet sich in epischer Breite seinen Kindheitserinnerungen. Cuarón wuchs in La Roma auf, einem bürgerlichen Viertel von Mexiko-Stadt, das 1985 bei einem schweren Beben halb zerstört wurde und heute als Hipster-Gegend gilt.
Ein kleiner Alfonso kommt in der Geschichte um die mexikanische Mittelstandsfamilie Antonio namentlich nicht vor. Die Kinder heißen Toño, Paco, Pepe und Sofi. Ihre Mutter Sofia wird von der jungen Mixtekin Cleo unterstützt, die gleichzeitig als Kindermädchen und Haushälterin der Familie arbeitet. Wenn der Vater, als Arzt in einer Klinik tätig, abends nach Hause kommt, inszeniert Cuarón das wie den Staatsbesuch eines gesichtslosen Königs. Doktor Antonios Ford Galaxy ist viel zu breit für die Einfahrt, in einer ausgedehnten Einparkzeremonie bugsiert der Hausherr den Wagen abends durchs Hoftor. Steigt er endlich aus, hat er noch einen Hindernisparcours diverser Hundehaufen vor sich.
Der Hund, der in die Einfahrt kackt, die Kinder, ihre Großmutter, die Señora, sie alle spielen in der Geschichte, die Cuarón in magischen Schwarzweißbildern erzählt, eine größere Rolle als der Vater. Selbst sein amerikanischer Straßenkreuzer kommt öfter in "Roma" vor als er selbst. Als der Vater die Familie verlässt, setzt sich Sofía ans Steuer. Wie sie den Wagen Schramme für Beule beim Einparken ramponiert, ist als bitter-komische Kastrationsfantasie inszeniert.
Cuaróns Erinnerungen an La Roma sind aber vor allem eine Hommage an sein damaliges Kindermädchen, hier unvergesslich verkörpert von Yalitza Aparicio, einer Vorschullehrerin aus dem Süden Mexikos. Cleo ist die Seele der Familie und gehört doch nie ganz dazu. Ihre indigene Herkunft, ihr sozialer Status halten sie auf Distanz zu den Menschen, die ohne sie aufgeschmissen wären. Cleo ist die stille Beobachterin im Film, Zeugin von schleichenden Veränderungen und gewaltigen Umbrüchen.
Dreh- und Angelpunkt der Story ist das "Corpus-Christi-Massaker" von 1971, bei dem paramilitärische Kämpfer 120 Studenten niederschossen. Cuarón inszenierte das Gemetzel am Originalschauplatz. Er behandelt das Ereignis aber nicht wirklich als Kulminationspunkt der Dramaturgie. Die privaten, dicht in die Historie eingeflochtenen Dramen wiegen schwerer. Cleo erwartet ein Kind von einem der Täter des Massakers, der seine Freundin ebenso im Stich lässt wie der Arzt seine Gattin. Die Frauen verbindet, dass sie ohne Männer zurechtkommen müssen. Sie trennt die soziale Schranke, die Klassengegensätze bleiben bestehen, daran lässt Cuarón keinen Zweifel.
Empathie mit den Figuren, eine mitunter harte Schilderung dessen, was ihnen widerfährt - ein Strudel der Ereignisse zieht den Zuschauer unerbittlich in die Erzählung hinein. Wie Cuarón Cleos liebevoll gemeisterten Alltag zwischen Küche und Kindern schildert, wie er die Sehnsucht, das Glück, die Enttäuschung, den Schmerz seiner Zentralfigur fühlbar macht, hebt "Roma" als einen der großen Filme dieses Kinojahrs hervor. Auf den Filmfestspielen von Venedig hat er den Goldenen Löwen gewonnen, für drei Kategorien der Golden Globe Awards, die im Januar vergeben werden, ist der Film nominiert, außerdem werden "Roma" große Oscar-Chancen vorausgesagt.
Nur einen Haken hat dieses kleine Kinowunder: "Roma" wurde vom Streamingdienst Netflix produziert, der die Kinoauswertung streng limitiert und, statt den Lichtspielhäusern vorübergehende Exklusivität einzuräumen, seine Produktionen vom ersten Tag an als Stream für zahlende Kunden freigibt.
Paradoxerweise schlägt Cuarón also selbst einen Nagel in den Sarg des konventionellen Kinobetriebs. Andererseits kann man nachvollziehen, warum sich der Regisseur für die meistbietende Firma entschied: Netflix gab für "Roma" 15 Millionen Dollar aus. Und Cuarón brauchte das Geld, etwa für die minutiöse Wiedererschaffung des Hauses, in dem der Filmemacher aufwuchs. Die Szenen im Elternhaus - das Original fiel 1985 dem Erdbeben zum Opfer - wurden in einem ähnlichen Bau inszeniert, der kurz vor dem Abriss stand. Das alte Mobiliar suchte sich Cuarón bei seiner weit verstreuten Familie wieder zusammen. Sogar handgefertigte Fliesen wurden verlegt, damit der Perfektionist mit dem authentischen Klang der Schritte auf dem Fußboden zufrieden war.
Auch eine heute verschwundene Prachtstraße inmitten von Mexiko-Stadt, "ein Trugbild von Wohlstand und Zivilisation, das im Film einen Kontrast mit den sozialen Klassen- und Rassenunterschieden bildet" (sagte Cuarón in einem Interview), musste teils nachgebaut, teils mittels Computertechnik simuliert werden. Netflix zahlte alles. Der Preis ist hoch, nicht für die Finanziers, sondern für die Filmemacher, die den Pakt mit dem Teufel schließen.
Die Streamingdienste haben das Kino in die digitale Umlaufbahn geschossen. Eine Rückkehr in den alten Theatersessel, zum Filmerlebnis der ganzheitlichen, manchmal auch befremdlichen Art steht in den Sternen. Ausgerechnet "Roma" verkörpert einen paradoxen Umbruch. Cuarón ist ein klassischer Erzähler, der sich von einem Unternehmen kapern lässt, das den Filmtheatern das Wasser abgräbt. Großes Kino - "Roma" könnte eines seiner letzten Blüten sein.