Wir stecken fest zwischen Blech und Beton, rien ne va plus. Noch nicht einmal in Marseille angekommen, schon sind wir gemeinsam mit hunderten Personen eingepfercht zwischen grauen Wänden. Die Beleuchtung ist spärlich, das Gefühl beklemmend. Hoffentlich ist der Feierabendstau im Tunnel auf dem Weg vom Flughafen in die Innenstadt kein Omen für die Stimmung, die uns in Le Corbusiers Cité Radieuse erwartet. Immerhin handelt es sich bei dem Gebäude, auf dessen Dach der französische Designer Ora-ïto 2013 das Kulturzentrum MAMO eröffnete, um eine der größten und ältesten Sozialwohnanlagen Marseilles. 337 Apartments erstrecken sich über die 18 Etagen des von Pfeilern getragenen Sichtbetonkolosses, den der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier Ende der vierziger Jahre erbaute und dessen Eckdaten unweigerlich an J.G. Ballards Dystopieroman "The High-Rise" erinnern: ein Hochhaus, aufgebaut wie eine eigene kleine Stadt inklusive Kindergarten und Bäckerei, errichtet von einem Mann, der nicht zuletzt aufgrund seiner Liebäugelei mit dem Faschismus zu den umstrittensten Architekten des 20. Jahrhunderts zählt.
Doch bereits beim Betreten des Eingangsbereichs wird deutlich, dass es in der Cité Radieuse nicht ansatzweise so düster und bedrückend zugeht wie im vorstädtischen Autobahntunnel. Das Sonnenlicht strömt durch die verglasten, goldverzierten Eingangstüren und spiegelt sich im beigefarben glänzenden Travertinboden. Vor den Aufzügen warten ein junges Mädchen, das einen Golden Retriever an der Leine hält, ein mit Koffern bepacktes Touristenehepaar, das vermutlich im Hotel in der 5. Etage übernachten wird, und zwei alte Männer, die gemeinsam einen Holzstuhl tragen. Zwischen den Bewohnern des Hauses herrscht eine nachbarschaftliche Vertrautheit, man grüßt sich, verstrickt sich in eine Unterhaltung und verpasst darüber den Aufzug, dessen knallrote Türen sich viel zu schnell wieder schließen.
Auf dem großflächigen Dach des Gebäudes, das man nach einer kurzen Aufzugfahrt erreicht, ist es um einiges schwieriger, ein Gespräch zu führen als in der Lobby. Der Wind weht heute besonders stark und trägt die Worte in den wolkenlosen Himmel davon. Ora-ïto versteht man trotzdem problemlos. Der in Marseille geborene Designer trägt, ganz dem Minimalismus verschrieben, eine dezente goldene Uhr und ein schwarzes T-Shirt und redet laut und energetisch gegen den Wind an. Ende der 90er-Jahre hatte der damals Neunzehnjährige Entwürfe für Gucci, Louis Vuitton und Apple ins Internet gestellt. Dort stießen sie auf eine derartige Begeisterung, dass ihm die Aktion nicht etwa Klagen wegen Urheberrechtsverletzungen einbrachte, sondern das Angebot, tatsächlich mit den Luxusmarken zusammenzuarbeiten. Seither hat Ora-ïto vieles designt, von Wasserflaschen über Handys bis hin zu Straßenbahnen, und ganz nebenbei das Dach der Cité Radieuse in einen angesagten Kulturhotspot verwandelt.
Die Symbiose aus Architektur und Landschaft sei der Faktor, der sein MAMO (kurz für Marseille Main Ouverte) zum perfekten Ausstellungsort mache, erzählt er begeistert. Die Kunst, die hier gezeigt wird, tritt in Dialog mit den umliegenden Plattenbauten, der von Pinien gesäumten Berglandschaft, dem am Horizont glitzernden Meer – und mit dem Gebäude selbst, dessen Schöpfer Ora-ïto als einen der besten Architekten der Welt bezeichnet. Bisher habe es jeder der vier Künstler, die seit der Eröffnung des MAMO vor drei Jahren eingeladen wurden geschafft, das Dach zu bespielen, die imposante Architektur Le Corbusiers zu konfrontieren ohne dabei von ihr verschluckt zu werden. Es sind erfahrene Künstler, denen Ora-ïto seinen Art Space anvertraut - Xavier Veilhan, Daniel Buren, Dan Graham und jetzt Felice Varini – eben weil er weiß, dass Kunst einiges leisten muss, um hoch über den Dächern von Marseille im direkten Dialog mit der Cité Radieuse zu bestehen und sie in immer wieder neue Geschichten zu verweben.
Erfahrung bezüglich der Auseinandersetzung mit Umgebung hat Felice Varini zu Genüge. Seit 1978 ist seine Arbeitsmethode, die er selbst als Malerei im Raum bezeichnet, die gleiche geblieben: Durch das Bemalen und Bekleben der unterschiedlichsten Oberflächen schafft er anamorphe Kunstwerke, die sich von einem bestimmten Blickwinkel aus zu zweidimensionalen geometrischen Bildern zusammenfügen. Hierfür projiziert der Schweizer Muster an Wände, Türme, Bodenflächen und zeichnet diese anschließend nach. Auf diese Weise überzog er 2009 bereits ein ganzes Schweizer Bergdorf mit Kreisen und schuf Werke in Kirchen, unter Brücken und auf Kreuzungen ebenso wie in Museen und Galerien. Nun ist zum ersten Mal ein Gebäude Le Corbusiers an der Reihe. Nach einem Moment der Bewegtheit und Andacht, so erzählt er, näherte sich Varini der Ausstellungsfläche des MAMO so, wie er es bei jedem seiner Projekte tut: "Ich arbeite mit der architektonischen Realität. In diesem Fall wurde sie eben von Le Corbusier gestaltet, aber das lege ich beiseite und kümmere mich um das Resultat- das ist viel mehr eine Frage von Licht, Raum, Bewegungen und Volumen. Es ist mit diesem Gebäude genau so als würde ich ein Gedicht von Rimbaud lesen oder einen Song von Pink Floyd hören – das hindert mich auch nicht daran, zu räsonieren und meine eigenen Vorschläge zu machen".
So präzise wie die Antworten Varinis sind auch seine Werke, meist in Grundfarben gehalten und auf einfache Formen beschränkt. Für Komplexität sorgt im Endeffekt der Raum an sich, das lässt sich beim Betrachten seiner für das MAMO angefertigten Werke deutlich erkennen. Die Wirkung der drei Arbeiten, die sich über das gesamte Dach erstrecken, verändert sich mit jedem Schritt, ihr Übergang in einander ist fließend. Hinter den gelben Linien, die sich vom richtigen Standpunkt aus betrachtet kerzengerade von den äußersten Punkten des Daches bis hin zur obersten Spitze des geschwungenen Schornsteins erstrecken, erkennt man Teile der gelben und roten Halbmonde, die sich in der ehemaligen Sporthalle des Gebäudes zu mehreren in einander verschlossenen Ringen zusammenfügen. Und die Formen Varinis erzeugen nicht bloß ein Bild, sie erzeugen unendlich viele, je nachdem, von welchem Blickwinkel aus man sie betrachtet. "Auf manche dieser Formationen wäre ich selbst vielleicht gar nicht gekommen", sagt er und deutet auf eine gelbe Linie, die sich am strukturierten Turm in der Mitte des Daches emporschlängelt. Erst durch Formverzerrung, erst durch den autonomen Dialog des Kunstwerks mit dem Gebäude entstehen neue Kompositionen – Varini nennt das produktive Anarchie.
Als Paco von den Werken auf dem Dach der Cité Radieuse hört, leuchten seine Augen: "Oh, das muss ich mir unbedingt angucken – ich liebe Op Art!". Paco lebt im 5. Stock der Cité Radieuse und strahlt eine Begeisterung für die vertikale Stadt aus, die ansteckt. Bei einer Schulexkursion hatte er als kleiner Junge zum ersten Mal ein Bauwerk Le Corbusiers gesehen: die Kapelle Notre Dame du Haut in Ronchamp, ein kurviges Kirchenschiff, dessen dreieckige Dachspitze gebogen in den Himmel ragt. "Es war wie eine Offenbarung. Ich wusste, eines Tages würde ich in einem seiner Gebäude leben". 50 Jahre später war es so weit. Nach einem bewegten Leben, von dem die verblassten Matrosentattoos an seinen gebräunten Armen ebenso zeugen wie die zahlreichen Schwarzweißfotografien an den Wänden seiner Wohnung, zog der in der Schweiz geborene Amerikaner in eines der vielen zweistöckigen Appartements, die sich hinter den bunten Türen der spärlich beleuchteten schwarzen Linoleumflure des Hauses befinden. Nicht einmal an den düsteren Gängen hat er etwas auszusetzen: "Das ist kein Flur, sondern fast schon eine Straße – wunderbar breit. Und der glänzende Boden ist fantastisch, wie in dem Film '2001' von Stanley Kubrick".
Paco zeigt seine Wohnung gerne interessierten Besuchern, er ist wie viele andere Hausbewohner stolz, in der Cité Radieuse zu leben. Ursprünglich für die Armen Marseilles konzipiert, haben im Laufe der Jahre zahlreiche Bohèmes den mittlerweile unter Denkmalschutz stehenden Sozialbau bezogen, aus Bewunderung für die minimalistische und bis ins letzte Ende durchdachte Bauweise Le Corbusiers. Dank dieser ist Pacos Apartment, das zu einem der größeren im Gebäude gehört, erstaunlich lichtdurchflutet und modern. Eine offene Galerie, ursprünglich vom Architekten als Elternschlafzimmer vorgesehen, gewährt von der oberen Etage aus den Blick auf das mit Kunst und Büchern überladene Esszimmer. Von dort aus gelangt man an einer mit Kreidefarbe bemalten Schiebetür, die ursprünglich einmal ins Kinderzimmer führte, auf einen der Balkons, über die jede Wohnung verfügt. Hier schweift der Blick von dem prächtigen Park direkt vor der Haustür über die tristen Hochhäuser, die das Gebäude umgeben. "Das sind alles Corbusier-Fakes", spottet Paco, während er auf Letztere deutet. "Die Leute machen Le Corbusier für diesen schrecklichen Plattenbaustil verantwortlich, aber was er hier geschaffen hat, ist viel ästhetischer, viel durchdachter. Er wollte die Menschen in diesem Gebäude glücklich machen". Der Ursprung des Glücks lag für Le Corbusier im Minimalismus. Kein Wunder, dass Felice Varinis Raumgemälde so wunderbar mit seiner Architektur harmonieren.