Wummernde Bässe, blitzendes Stroboskoplicht, hohe Industriehallen, Sichtbeton: die typische Berliner Nachtclub-Atmosphäre bringt das Gefühl zurück, das in Pandemiezeiten nur in nostalgischer Erinnerung waberte. Hier lodert es kurz auf. Doch so richtig mag die Club-Stimmung nicht aufkommen, denn dafür fehlt die schwitzende, feierwütige Masse, die sich im rhythmischen Gleichschritt der Nacht hingibt. Stattdessen schleichen acht bis zehn Menschen durch den Betonklotz-Bau und genießen, jede Person für sich, das angenehm angespannte Gefühl, dass hier und heute noch viel Unerwartetes passieren wird.
Hinter den massiven Mauern des Kraftwerks in der Köpenicker Straße in Berlin-Mitte können Besucherinnen und Besucher in Kleingruppen bis zum 30. Oktober die diesjährige Auflage des Atonal Festivals unter dem Motto "Metabolic Rift" erleben. Und das im wortwörtlichen Sinne. Denn das, was Atonal bietet, ist tatsächlich ein sinnliches Erlebnis, das insbesondere nach so langer Zeit der pandemiebedingten Stille im Gedächtnis bleibt.
Alle 15 Minuten startet die Ausstellungstour vor dem ehemaligen Heizkraftwerk, das mit seiner brutalistischen Fassade eine dunkle Vorfreude auf das erzeugt, was sich im Inneren verbirgt. Wenn die schwere Tür hinter einem zuknallt, taucht man ab in die völlige Dunkelheit. Und damit können sich die Augen schon einmal an das gewöhnen, was nun für rund zwei Stunden zum Normalzustand wird. "Die erste Ausstellungstour dauert circa 45 Minuten. Danach wird es einen Bereich zur freien Bewegung geben in dem Sie so lange bleiben können, wie Sie möchten", erklärt eine Vermittlerin, während die Gruppe mit weit aufgerissenen Augen versucht, Konturen in der Dunkelheit auszumachen. "Nach jedem Raum werden Lichter zeigen, wo es weitergeht.", erzählt sie und steigert damit die Spannung auf das, was die mutigen Entdeckerinnen und Entdecker jetzt erwartet. Damit verschwindet die leitende Stimme aus dem Off, die die Gäste nun der Ausstellung selbst überlässt.
"Lichter werden Sie leiten"
Mit leisen Schritten und an der kalten Mauer des Ganges entlang tastenden Händen bewegt sich die Gruppe behutsam und im vorsichtigen Einklang, um keinen "Auffahrunfall" zu verursachen. Und schon leuchten orange Neonröhren neben einer Tür auf, die ruckartig Licht ins Dunkel bringen und den Weg vorgeben. Das warme Licht, das den Raum zwar nicht durchflutet, aber dem Auge sanfte Orientierungshilfe bietet, steht im Kontrast zu der kühlen Location des Kraftwerks.
Und kühl wird es auch in dem ersten Raum, der sich laut der Treppenstufen, die es hinunter ging, wohl im Erdgeschoss des Gebäudekomplexes befindet. Ein flackender Fernseher zeigt eine Videoinstallation, während auf dem Boden ein langsam schmelzender, backsteingroßer Eisklotz angestrahlt wird und auf dem grauen Boden eine Pfütze bildet. Im Hintergrund ertönen experimentelle, melodiefreie Tonsequenzen. Nach kurzer Verweildauer blitzt wieder das orange Licht auf. So langsam ist das Konzept der (un)geführten Tour begriffen, und alle folgen zielsicher der Leuchtquelle. Lange Gänge, wie aus einer Filmkulisse entsprungene alte Technikräume und weitere Areale des ehemaligen Heizkraftwerks werden auf der Strecke durchquert.
Wer schon einmal in einem Escape-Room war und sich dort gegen tickende Uhren und knifflige Rätsel durchgesetzt hat, erkennt vielleicht Parallelen in der Art und Weise, wie jeder aufeinanderfolgende Raum neue, unerwartete Sinneseindrücke mit sich bringt. Der verspielte "Gamification"-Ansatz der Tour in Kombination mit der Dunkelheit sorgt für eine angenehme Grundspannung. Das Atonal Festival selbst bezeichnet die Logik der choreografierten Abfolge als "Geisterbahn". So erscheint in einem Raum plötzlich eine düstere, skeletthafte Skulptur der Künstlerin Giulia Cenci (Preisträgerin des Baloise Kunst-Preises 2019 auf der Art Basel) und fügt sich mit ihrem industriellen Stil in die Umgebung ein.
Bisher unzugängliche Areale begehbar
Zu einem Highlight der ersten 45-Minutien zählt die Arbeit der 94-jährigen Computerkunstpionierin Lillian F. Schwartz. Das psychedelische Stop-Motion-Werk zeigt einen wilden Zusammenschnitt von händischen Zeichnungen der US-amerikanischen Künstlerin, die sie eigens für das Atonal Festival angefertigt hat. Zu sehen sind bunte, monsterartige Fratzen und Gesichter, die in einem enormen Tempo übereinander geschnitten und mit den hämmernden Bässen der chinesischen Produzentin Hyph11E unterlegt sind.
Den Aufstieg im Gebäude begleitet eine Performance des Meisters der konstruierten Situationen Tino Sehgal. In einem hallenden Treppenhaus angekommen, sorgen skurrile, menschliche Töne, die zwischen Vogelgezwitscher, Beatboxen und wirr ausgestoßenen Lauten variieren, für ein Klangerlebnis der etwas anderen Art. Im Takt zu den eigens produzierten Geräuschen bewegt sich auf einer höheren Etage im Treppenhaus im grellen Licht leuchtend die Hand einer Person, die langsam Etage für Etage voranschreitet. Die Gruppe folgt der mysteriösen Hand und der skurrilen Performance des deutsch-britischen Künstlers bis zur obersten Etage des Treppenhauses.
Die offene Tür im obersten Geschoss führt schließlich zur letzten Attraktion der ersten Tour, die die Sehnsucht nach dem Nachtleben weckt. Der in Berlin lebende Künstler Cyprien Gaillard lässt in einem bisher unzugänglichen Areal im Kraftwerk eine überdimensionale aufblasbare Figur zu elektronischen Klängen tanzen. In Kollaboration mit dem Produzenten Jamal Moss a.k.a. Hieroglyphic Being zeigt Gaillard das, was in Pandemie-Zeiten kaum möglich war: das ausgelassene Feiern und Tanzen im Nachtclub.
Wo Pflanzen ohne Tageslicht auskommen
Und genau dahin geht es nun auch weiter. Am Ende der ersten Tour angekommen folgt nun der Teil, in dem sich die Gruppe auflöst und es die spektakulären Licht- und Klangkunstwerke auf eigene Faust zu erkunden gilt. Im imposanten Hauptraum des Kraftwerks und der ehemaligen Tanzfläche des Nachtclubs Tresor angekommen, ist es durchaus nicht übertrieben, von einer Reizüberflutung zu sprechen. Überall flackern Lichter, ertönen laute, schrille Klänge und lauern neue dunkle Räume, die darauf warten, die Menschen in ihren Bann zu ziehen. Wer sich kurz sammeln will, ist sicher auf einem der auf dem Boden verteilten Sitzsäcken, von denen aus man einen guten Blick auf die meterhohe Decke des Kraftwerks hat. Schon allein für die eindrucksvolle Räumlichkeit lohnt sich der Besuch der Ausstellung.
Doch auch künstlerisch ist auf der frei begehbaren Fläche einiges los. Daniel Lie scheint im Dunkeln das Unmögliche möglich zu machen. Die großformatige Installation "Non-Negotiable Condition", die an eine postanthropozäne Tempellandschaft erinnert, lässt kleine grüne Pflanzen in der Dunkelheit des Kraftwerks gedeihen. Lie ist in Sao Paulo geboren und lebt derzeit in Berlin. Lies künstlerische Praxis speist sich aus persönlichen Erinnerungen und Familiengeschichten, kulturellen Objekten und Erzeugnissen der Natur – wie den moderig riechenden, mit einer feuchten Erdmasse gefüllten Skulpturen, die das eindrucksvolle Kunstwerk bilden, das hier bis zum 30. Oktober wohl noch weiter ergrünen wird.
Wer sich kurz dem Garten der Dunkelheit hingeben wollte, wird spätestens von einem lauten, von Blitz und Donner angekündigten Spektakel auf einem Auto-Schrottplatz aus dem Träumen gerissen. Schrille, hämmernde Töne und flackernde Scheinwerfer lenken die Aufmerksamkeit auf eine nordwestliche Ecke des Gebäudes, die an einen Parkplatz-Rave erinnern soll. Das Werk von Marcel Weber (MFO) wird mit Klängen der Vokalistin Lyra Pramuk unterstützt und soll die Erinnerungen an die automobile Ravekultur ins Kraftwerk bringen.
Was bleibt, ist das Erlebnis
Nach knapp zwei Stunden Licht- und Ton-Überdosis ist irgendwann die Kapazitätsgrenze der eigenen Wahrnehmung erreicht und das Bedürfnis nach Dunkelheit und Action gefühlt für die nächsten Wochen befriedigt. Hängen bleiben weniger einzelne Kunstwerke, mehr der Gesamteindruck des eindrucksvollen Festivals. Nicht nur Sound-, Video-, und Lichtkunst-Begeisterte kommen hier auf ihre Kosten, auch Gaming- und Nachtleben-Fans sollten Atonal nicht verpassen.
Der Besuch im Kraftwerk findet durch den filmreifen Übergang in "die Welt da draußen" einen würdigen Abschluss. Mit dem Öffnen der schweren, überdimensionalen Metalltür, die den Ausgang markiert, strömt den Besuchenden ein blendender Kegel Tageslicht entgegen, wie in einem Thriller, in dem die Gefangenen aus ihrem Verließ kommen. Nun müssen sich Augen wieder an das Hellgrau Berlins im Herbst gewöhnen.