Zu Besuch bei Herman de Vries

Atelier mit Waldanschluss

Die Kunst des Niederländers Herman de Vries ist auf Biennalen und in Museen rund um den Globus zu sehen. Er selbst lebt seit 40 Jahren in einem Dörfchen im fränkischen Steigerwald und lässt die Welt am liebsten zu sich nach Hause kommen. Ein Besuch im grünen Nirgendwo

Die Kölner sind heute wegen London da. Zwei pragmatische Transporteure laden sorgfältig verpackte Vierecke in einen Kastenwagen, der die Bilder über den Ärmel­kanal bringen soll. Bevor sie wieder losfahren, können sich die Männer die Frage dann doch nicht verkneifen. Warum genau wohne ein Künstler wie er am Ende der Welt? Jemand, der in der Londoner Cortesi Gallery eine Einzelausstellung mit dem unbescheidenen Namen "the return of beauty" bekommt?  

Herman de Vries isst Tomatensuppe aus Nachbars Tomaten mit ganzen Knoblauchzehen und lächelt schulterzuckend. "Die kommen halt aus Köln", sagt er beim Mittagessen am robust hölzernen Küchentisch. "Das muss denen so vorkommen."

Der 86-Jährige ist es gewohnt, ein wenig belächelt zu werden. Von den Künstlerkollegen, weil er seit Jahrzehnten das unterfränkische Nirgendwo den schicken Kreativ-Enklaven dieser Welt vorzieht. Und von den Eschenauer Dorfbewohnern, 180 an der Zahl, weil er für Sonntagsspaziergänger schon mal nackt im Wald anzutreffen ist – des unmittelbaren Naturerlebnisses wegen – und goldene Fragewörter in Steine ritzt. Der Herman halt. Der mit dem verzottelten weißen Waldschrat-Bart und dem lebenslangen Sonderrecht, auf allen Forstwegen Auto zu fahren. "Ich werde akzeptiert und habe gute Nachbarn", sagt er stoisch lächelnd. "Was die Leute sonst so denken, ist mir egal."

 

Herman de Vries, gelernter Landschaftsgärtner und niederländisches Mitglied der Zero-Gruppe mit Vorliebe für Naturmaterialien, wohnt seit knapp 40 Jahren am Ende der Welt. Eigentlich wollte er 1970 in Eschenau nur eine Freundin besuchen und danach ein Haus in Irland kaufen. Ein Neuanfang nach einer gescheiterten Ehe. "Ich wollte einfach nur meine Ruhe haben", sagt de Vries. Aber Ruhe gab es auch in Eschenau, einem von Laubwald umhügelten Dörfchen zwischen Schweinfurt und Bamberg.

Bei seinem Besuch damals fragte de Vries kurzerhand eine Frau am Gartenzaun, ob nicht ein Haus frei wäre – war es –, und so zog er kurz darauf in ein leer stehendes Pfarrhaus mit Blick auf den nördlichen Steigerwald, der ihm plötzlich verlockender vorkam als die irischen Weiden und Küstenklippen.

 

Inzwischen ist de Vries mit seiner zweiten Frau Susanne, einer zum Landleben bekehrten Frankfurterin, mehrmals in Eschenau umgezogen. Seit ein paar Jahren wohnen die beiden in einem unverputzten Steinhaus mit spitzem Giebel und Urwaldgarten, das 1864 als Schule gebaut wurde und ein Falkennest unter dem Dach versteckt. In einer ehemaligen Scheune ist ein Atelier eingerichtet, in dem Keilrahmen und Kuhschädel lagern, in einem Arbeitszimmer im Haus klebt Assistentin Theresa gepresste Pflanzen auf dickes, cremefarbenes Papier. Inzwischen sind es Hunderte Blätter mit heimischen Gewächsen geworden, im Schrank neben der Treppe stehen geschnitzte Bücher aus allen Holzarten des Steigerwalds. Irgendwann möchte Herman de Vries gern ein Herbarium seines fränkischen Nirgendwo ausstellen, dessen Materialien in seiner Kunst immer wieder auftauchen. "Wer weiß. Wenn ich es noch schaffe", fügt er nüchtern hinzu. Solche Einschränkungen bleiben öfter im Raum stehen, wenn es um zukünftige Projekte geht. Der Künstler, der früher am liebsten jeden Tag 20 Kilometer durch den Wald gestreift ist, trägt nun fünf Stents im Herzen, die letzten beiden Jahre waren von Arztbesuchen und Krankenhaustagen bestimmt. Die steilen Treppen seines ganz und gar nicht barrierefreien Hauses machen ihm sichtlich zu schaffen. Nach der Venedig-Biennale 2015, auf der er den niederländischen Pavillon bespielte, und der großen Zero-Schau im Berliner Martin-Gropius-Bau sind seine formstrengen Bilder aus Pflanzen, Erde oder Mineralstaub gefragt wie selten zuvor. Länger als ein Jahr im Voraus plant in seinem Team aber keiner mehr. An einer Hausecke auf dem Weg zur Atelier hat Herman de Vries ein Geschenk seines Künstlerfreundes Marinus Boe­zem aufgehängt. "I was born 28th January 1934", steht auf einer glänzenden Marmortafel. Hinter dem Zusatz "I will die" klafft eine elfenbeinfarbene Lücke. Marinus Boezem ist noch am Leben, genau wie der Empfänger seines fatalistischen Memento-mori-Geschenks. "Viele Leute fanden das Werk befremdlich, weil sie nicht an den Tod erinnert werden wollen", erzählt Herman de Vries. "Aber ich finde es schön, es jeden Tag zu sehen und an meine Zeitlichkeit erinnert zu werden. Jeder hat eben eine bestimmte Menge Zeit."

Beim Mittagessen mit seiner Frau, den Assistentinnen Theresa und Joana und den saftigen Nachbarstomaten geht es um London. Der gemaserte Holztisch mit tiefroter Suppe und chinesischen Löffeln, mit Knäckebrot und zwei imposanten Stücken aus dem Käselaib könnte ein sorgfältig arrangiertes Neo-Landlust-Stillleben sein, ist aber Improvisation frei nach de Vries. Zum Essen hat ein riesiger Gong im Treppenhaus gerufen, der noch lange zwischen den hölzernen Deckenbalken nachhallt. Diesmal will Herman de Vries zu seiner Ausstellungseröffnung nach England reisen, aber er ist wählerisch geworden, was die Stationen des ewig wandernden Kunstzirkus angeht. Von der Venedig-Biennale vor gut zwei Jahren sind ihm vor allem die ermüdenden, immer gleichen Fragen der Journalisten in Erinnerung geblieben, und so kontrolliert er die Wege seiner Kunst inzwischen am liebsten aus seiner Sandstein-Schaltzentrale im Steigerwald. "Die Welt ist überall", sagt er, während er durch seine Zimmer voller Erdproben und Natur-Fundstücke streift, die ihm Freunde von ihren Reisen mitbringen. "Jetzt kommt die Welt eben zu mir." Ende 2015 hat de Vries eine Ausstellung mit neuen Arbeiten in Jakarta konzipiert. Er war nie in seinem Leben in Indonesien (der Militärdienst in der ehemaligen niederländischen Kolonie blieb ihm erspart) und hat die Werke aus verschiedenfarbigen Reissorten, Fruchtkörben und Bambusstücken auch nie gesehen. "Ich wusste genau, was ich wollte", sagt er und deutet auf die Bücherwände in einem seiner Arbeitszimmer. "Ich habe ein Buch über die Pflanzen in Indonesien gelesen und habe den Leuten vor Ort gesagt, was sie tun sollen." Zielsicher zieht de Vries den Jakarta-Katalog aus einem wankenden Bücherstapel. Die Fotografien zeigen Reis und Bambus in strenger geometrischer Formation – "basic values" hieß die Ausstellung. Dass seine Kunst nun vor allem aus Ideen besteht, die sich irgendwo am anderen Ende der Welt durch andere Hände materialisieren können, scheint ihm zu gefallen. Eine altersbedingte Volte zurück zu den Idealen der Zero-Gruppe, die die Kunst von persönlichen Befindlichkeiten und individueller Äußerung befreien wollte.

 

Herman de Vries hat keinen Computer und keine eigene E-Mail-Adresse. Was wichtig ist, wird ihm von seinen Assistentinnen ausgedruckt, die auch die digitalen Netze in die Kunstwelt auswerfen. "Es interessiert mich einfach nicht", sagt er achselzuckend. Dafür wandert er stolz durch seine Bibliothek, die mehrere Zimmer füllt und ihm jede Suchmaschine entbehrlich erscheinen lässt. De Vries legt Wert darauf, die zweitgrößte Drogenbibliothek Deutschlands zu besitzen (die größte gehört einem Bekannten aus Hamburg), ein ganzes Regal in einem der Arbeitszimmer beschäftigt sich mit den physiologischen und den philosophischen Dimensionen des Rauschs. Ihm selbst haben die Ärzte die Pillen und die Pülverchen inzwischen ausgeredet, eine gelegentliche Haschpfeife – ein von ihm seit 1954 gepflegtes Ritual gegen Unruhe – lässt sich de Vries jedoch nicht verbieten. Zumal aus dem Gepaffe neue Kunst entsteht. Ein Taschentuch mit Brandflecken steht aufgespannt und eingerahmt auf dem Fensterbrett, daneben eine klebrige Mottenfalle mit Dutzenden winziger Insektenkörper hinter Glas. "Nebenbeikunst" nennt de Vries diese kleinen Bilder, die beim Leben im Eschenauer Sandsteinhaus eben so anfallen.

Sein eigentliches Atelier beginnt jedoch erst ein paar Hundert Meter hinter dem Ende des Dorfes. Eine kurvige Straße, im Sommer Motorrad-Rennstrecke, schlängelt sich einen Hügel hinauf und verliert sich im Laubgrün. Der Steigerwald, eines der größten Waldgebiete Deutschlands mit Bayern-untypisch hohem Laubbaum-Anteil, ist für de Vries unerschöpflicher Materialfundus für seine Kunst. Für seine Arbeiten hat er akribisch den Waldboden vor seinen Füßen fotografiert, Boden- und Pflanzenproben gesammelt und mit Kuratoren nackt in Flüsschen gebadet.

Für Eingeweihte ist die Hügellandschaft auch ein Freiluftmuseum, in dem sich de Vries' Werke suchen lassen. Auf Steinen und Felsen sind minimalistische Botschaften in vergoldeten Kleinbuchstaben geschrieben, die ein Markenzeichen des Künstlers geworden sind. Die Fragen "was, wieso, vonwo, wohin?" lassen sich an einer Felswand noch recht bequem von der Straße aus begutachten, bei anderen Inschriften weiß de Vries auf Anhieb selbst nicht, wo sie sich befinden.

 

Wenn er jedoch nach einem Ort im Wald gefragt wird, der ihm besonders am Herzen liegt, fällt ihm sofort die Kaisereiche ein, ein mindestens 350 Jahre alter Baumriese, der sich in einer lichten Schonung in den Himmel streckt. Als vor einigen Jahren ein neuer Förster das Gebiet übernahm, fragte er zuerst de Vries über die Besonderheiten des Waldes aus. Niemand sonst hat die Pfade rund um Eschenau so oft bewandert, niemand die Vegetation seit Jahrzehnten so genau dokumentiert. Der neue Förster hatte den Vorschlag, den imposantesten Baum des nördlichen Steigerwalds nach dem bekanntesten Künstler der Region zu benennen. Dann fand er jedoch heraus, dass der Baum schon einen Namen hatte – die Kaisereiche eben, nicht ganz so kreativ, aber eine historisch gewachsene Bezeichnung. "Schade eigentlich", sagt de Vries und reckt mit Spazierstock in der Hand den Kopf in Richtung Baumkrone. "Die Herman-Eiche. Das wäre ein schönes Denkmal gewesen. Das hätte mir gefallen."