Claire Hsu, mit welcher Motivation haben Sie das Asia Art Archive im Jahr 2000 gegründet?
Ich habe damals gerade meinem Master in London abgeschlossen. Thema war die Geschichte chinesischer Kunst, die alten Sachen: Keramik, Malerei. Erst dann wurde mir klar, dass ich mit zeitgenössischen Dingen arbeiten wollte. Die Geschichtsschreibung für chinesische Kunst endet aber um 1900. Ich habe mich trotzdem entschlossen, meine Dissertation über China in den 90ern zu schreiben.
In London?
Ich bin dann nach Hongkong gegangen und habe erst einmal in der Hanart TZ Gallery als Praktikantin gearbeitet. Ich habe deren Archiv organisiert, und der Galerist Johnson Chang hat gefragt, warum ich nicht eine Organisation gründe, die diese ganzen Informationen sammelt und teilt. Ich fand die Idee super.
Was haben Sie dann aus der Idee gemacht?
Es ging um eine größer gedachte Kunstgeschichte. Zu dem Zeitpunkt wurde sie vor allem von einem eurozentrischen Standpunkt geschrieben. Ich wollte aber zeigen, dass die Lage nicht so eindeutig ist. Das hat natürlich mit der Kolonialgeschichte zu tun, aber auch damit, dass Hongkong erst 1997 ein Teil Chinas wurde.
Wie geht man mit so einem Projekt um?
Seit beinahe 20 Jahren digitalisieren wir Archive. Unser Ideal ist, dass die Sammlung nicht einfach eine Menge an Material ist, sondern, dass sie aktiviert werden kann. So entstehen neue Ideen. Zum Beispiel durch Kollaborationen mit Museen, Universitäten und Schulen. Wir laden dazu ein, Projekte mit dem Material zu realisieren.
Und was macht ihr Archiv so besonders?
Unser Archiv soll kein schlecht gelüfteter Ort im Keller irgendeines Gebäudes sein. Stattdessen wollen wir Dinge bewahren, aber auch den Zugang ermöglichen. Historisch gesehen bedeutet ein Archiv, dass Artefakte von ihrem Ursprungsort entfernt werden. Für uns ist wichtig, dass das nicht passiert. Wir haben digitalisierte Archive aus Indien, Pakistan oder Vietnam – aber das Wissen bleibt an diesen Orten.
Der Hauptsitz des Archivs ist in Hongkong. Warum?
Naja, ich komme aus Hongkong.
War das denn keine strategische Wahl?
Die Stadt ist mit dem chinesischen mainland verbunden. Sie gehört dazu, es gibt aber zwei verschiedene Systeme. Hier liegt ein internationaler Schnittpunkt: Wir haben Verbindungen zu Taiwan, Indien und vielen anderen asiatischen Ländern. Als wir das Archiv gegründet haben, gab es hier allerdings noch keinen Art-Basel-Ableger, noch keine internationalen kommerziellen Galerien und auch nicht den Museumskomplex M+, im West Kowloon District, der in diesem Jahr eröffnen soll. Wir haben aber damals schon über Infrastrukturen für Wissen und Lehre nachgedacht.
Können Sie ein Beispiel für diese Vermittlungsarbeit geben?
Der Künstler Lee Wen ist ein Performance-Pionier aus Singapur, der leider vor wenigen Wochen verstorben ist. Wir haben eineinhalb Jahre mit ihm an der Digitalisierung seines Archivs gearbeitet. Aus seiner Perspektive haben wir einen Überblick über die Geschichte der Performancekunst bekommen. Aber weil er so sehr mit anderen Künstlern verbunden war, haben wir sein Netzwerk auch integriert. So arbeiten wir: mit Einzelpersonen, die wichtig waren, aber auch mit ihren weitverzweigten Beziehungen.
Wie kommen Sie denn an all das Material in ihrem Archiv?
Im Fall von Lee Wen kam das Material direkt von ihm. Sobald wir etwas online stellen, verändert sich die Ökonomie der Recherche — denn wenn Sie sonst in Deutschland über Performancekunst aus Singapur forschen wollen, kann das schwierig werden. Jetzt finden Sie aber eine Menge Primärquellen einfach in unserem Archiv.
Wer wählt die Schwerpunkte, nach denen Sie forschen?
Wir habe ein Team von Wissenschaftlern, alle mit eigenen Forschungsinteressen.
Sie nennen sich Asia Art Archive. Aber was soll eigentlich asiatische Kunst sein?
Das werden wir oft gefragt. Asia Art Archive: Eigentlich ist ja keiner der Begriffe in unserem Namen klar. Was Asien betrifft: Wir haben an dem Projekt "Mapping Asia" gearbeitet, das zeigte ganz gut, wie wir diesen Bereich verstehen — nämlich eher als ein gedankliches Konstrukt. Wir glauben, dass die Grenzen durchlässig sind. Je mehr wir mit jüngster Kunstgeschichte arbeiten, die für einen bestimmten Moment voller wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Umbrüche in Asien steht, wird uns klar, dass Ideen, Religionen, Sprachen, Kunst, all das, seit Jahrhunderten mühelos Grenzen überschreitet. Wir sehen uns als Teil dieser fortdauernden Bewegung. Heutzutage reisen Künstler ständig, und wir haben noch gar nicht über die Diaspora geforscht. Aber das werden wir vielleicht in Zukunft tun.
À propos Zukunft: Die Art Basel hat schon einen Weile einen Standort in Hongkong, China ist der drittgrößte Kunstmarkt der Welt. In Europa und in den USA denken Institutionen darüber nach, wie man den Kanon entrümpeln und offener gestalten kann. Finden Sie nicht auch, dass das ganze Konstrukt von Zentrum und Peripherie gerade ins Wanken gerät?
Theoretisch schon. Es gibt eine große Verschiebung. Die nächste Documenta wird von dem indonesischen Kollektiv Ruangrupa kuratiert. Die Yokohama Triennial wird vom Raqs Media Collective geleitet. Damit übernimmt zum ersten Mal ein ausländisches Team eine japanische Triennale. Vielleicht entstehen aber auch einfach mehr Zentren. Es bleiben noch immer viele Geschichten unerzählt, und niemand hat das im Blick, wenn wir die Materialien nicht zugänglich machen.
Muss man bei einem Archiv nicht auch immer entscheiden, was reindarf? Ist da nicht ein Problem, dass man nicht alle Geschichten erzählen kann?
Klar. Ein Beispiel: Wir haben gute Arbeit geleistet, Kunst aus Asien sichtbar zu machen — aber bei Kunst von Frauen sieht es noch schlecht aus. Aber wir haben im Blick, wie Frauen aus der Geschichte herausgeschrieben wurden. Im vergangenen Jahr haben wir die Künstlerinnengruppe Guerrilla Girls für ein Projekt eingeladen, das dann an unserem Stand bei der Art Basel in Hongkong gezeigt wurde. Sie haben uns bei der kritischen Selbstreflexion geholfen. Wir müssen also überlegen: Führen wir nicht die Logik der Marginalisierung fort? Man kann immer noch mehr tun, noch mehr hinterfragen.
Das Material, das Sie jetzt archivieren, ist aus dem späten 20. Jahrhundert. Wo sehen Sie das Asia Art Archive denn in zehn, zwanzig Jahren? Ist das dann Teil des Kanons der Kunstgeschichte?
Die Gefahr besteht. Deshalb fordern wir auch immer andere Archive.
Diese Aufgabe kann aber unendlich weitergehen.
So lange es nutzbringend, relevant und kritisch ist, kann das Asia Art Archive für zweihundert Jahre weitermachen. Wenn es irgendwann nichts mehr beizutragen hat, kann es auch niederbrennen. Nun ja, es ist alles digital, aber Sie wissen schon. Es kommt auf die Haltung an, mit der wir die Organisation in Zukunft weiterführen.
Welche Haltung?
Sehen Sie, bei Kunst geht es um mehr als um Werke. Die Arbeit damit umfasst nicht nur die schönen Objekte, für die Menschen viel Geld ausgeben. Es geht um persönliche Bindungen. Nur so kann das Archiv zum Verständnis der Geschichte beitragen, beispielsweise in China in den 60ern, oder zum Verständnis dessen, was an einem bestimmten Moment in Singapur passiert. Nur ist wichtig: Es muss in Bewegung bleiben, es muss aktiviert werden.