Kunstmesse Artissima in Turin

"Wir machen Dinge, die sonst ein Museum tun würde"

Als Kunstmesse in öffentlicher Hand und mit starken Institutionen im Hintergrund gelingt der Turiner Artissima vieles besser. Das sieht man besonders in den kuratierten Bereichen. Ein Rundgang

Ein schnelles Auto, das verzerrte Gesicht eines Mannes auf der Flucht, im dynamischen Comic-Stil gezeichnet: Die Wandtapete, die Cemile Sahin auf der Turiner Kunstmesse Artissima installiert hat, sieht aus wie von Roy Lichtenstein erdacht. Allerdings hat eine Künstliche Intelligenz damit geholfen. In der Ecke sind im Internet gefundene Filme von realen Verfolgungsjagden von Polizei und Verbrechern zu sehen, der Soundtrack dazu stammt von Mafia-Filmen. Sahin beschäftigt sich in ihrer Installation für den Stand der Galerie Esther Schipper mit der Faszination für Gangster, mit früher Kriminalistik und Theorien darüber, wie Deliquenten eigentlich aussehen und mit unseren aktuellen Klischees. 

Nicht nur Sahins Arbeit, zu sehen in der Sektion "Present Future", die Einzelpräsentationen von jüngeren Künstlerinnen und Künstlern vorbehalten ist, wirkt wie die Mini-Version einer institutionellen Ausstellung. Die Artissima, die in diesem Jahr zum 30. Mal stattfindet, zieht ihren besonderen Reiz aus den vielen kuratierten Bereichen, die im Zentrum des Parcours in den hellen Messehallen des Turiner Oval Lingotto stehen. 

Die Sektion "Back to the Future" zeigt Wiederentdeckungen – wunderschön beispielsweise die Zeichnungen der 2018 verstorbenen Lydia Silvestri bei der Galerie Bar, die auch als Bildhauerin von Brancusi beeinflusste, abstrakte Körper erstehen ließ. Bei den jungen Galerien der Sektion "New Entries" finden die Körperbilder bei der Galerie Hoa aus São Paulo ein zeitgenössisches Echo: Die Keramiken und Installationen von Caroline Ricca Lee reflektieren das Erbe ihrer Vorfahren, die als chinesische Immigranten ins Land kamen, integrieren tiefschwarzes Haar, Fotos und Objekte und formen die Gesichter von Mutter und Großmutter in melancholischen Wandreliefs ab. 

Junge, eigenwillige Malerei gibt es dagegen an dem Stand der Galerie Una, wo die 1996 in Prag geborene Sofie Tobiášová sich in großformatigen Gemälden selbst in den Rachen blickt und seltsame Wesen auf ihrer Zunge erscheinen lässt oder beim Selbstporträt mit Zigarette und Freundin weibliche Intimität erforscht. 

Aber nicht nur bei den kuratierten Sektionen kann man hier Entdeckungen machen. Bei der Zilberman Gallery beispielsweise beeindrucken die Arbeiten der kurdischen Künstlerin Fatoş İrwen, die Jahre im Gefängnis verbrachte und dort mit einer eigeschmuggelten Nadel und ihrem eigenen Haar Nähte auf Papiere aufbrachte und so abstrakte Werke schuf. Und bei der Galeria Fonti Napoli überzeugt die Fotografie von Kiluanji Kia Henda, der Immigranten in Süditalien halb dokumentarisch erfasste, halb vor der Kamera inszenierte, wie Geister in phantasmatischen Szenen. 

"Artissima zeigt die Kunst, die unsere Zeit repräsentiert, und die repräsentiert, was Museen und Institutionen interessiert. Das geht über die üblichen Bedürfnisse des Marktes hinaus", kommentiert ein zufriedener Messedirektor Luigi Fassi im Interview am Eröffnungstag. Dass so viele internationale Kuratorinnen und Kuratoren über die Organisation der kuratierten Sektionen, aber auch über Führungen und andere Projekte eingebunden sind, ist für ihn auch eine Art Test: Wenn sie mit der Messe zufrieden sind, dann sei das ein gutes Zeichen. 

Fassi führt die besondere Qualität der Messe auch darauf zurück, dass sie in öffentlicher Hand ist. "Artissima gehört einer Kooperation von drei Museen, deshalb denkt Artissima wie eine öffentliche Institution. Wir kuratieren auch Ausstellungen jenseits der Messe, wir geben Werke in Auftrag, machen Projekte in der Stadt. Wir machen Dinge, die sonst ein Museum tun würde. Wir haben das über viele Jahre aufgebaut. Wir sind eine kommerzielle Plattform, wir brauchen die Sammlerinnen und Sammler, die Galerien müssen verkaufen. Aber wir denken auch, dass wir hier alle einen kulturellen Wert erarbeiten. Und alle Institutionen in der Stadt machen mit. Es ist ein Ökosystem, das wir pflegen und das wächst."

Dabei hilft unter anderem auch der großzügige Ankaufsetat der Fondazione per l’Arte Moderna e Contemporanea CRT von insgesamt rund 200.000 Euro, der für die Sammlungen der Galleria Civica d'Arte Moderna di Turin und des Turiner Castello di Rivoli auf der Messe zur Verfügung stehen. 

Und es hilft eine Sammlerin wie Patrizia Sandretto Re Rebaudengo, die am Abend der Messevernissage nicht nur in ihrer eigenen Fondazione eine großartige Ausstellung von Paulina Olowska eröffnete, sondern auch in ihrer eigenen Villa zwischen Kunst von Maurizio Cattelan und Kiki Smith jedes Jahr ein großzügiges Dinner ausrichtet – mit dem Bürgermeister als Ehrengast und zahlreichen Künstlerinnen und Künstlern an den Tischen, und mit einem Nachtischbuffet, das allein schon als Kunstwerk durchgehen würde.

Über die Artissima und andere sehenswerte Kunst in Turin (unter anderem Michelangelo Pistolettos 90-jährigen Oberkörper) spricht Elke Buhr auch mit Detektor FM. Sie können den Radiobeitrag hier hören, wenn Sie die Inhalte aktivieren: