Der 78 Jahre alte Maler und Bildhauer, der seit 1992 in Frankreich lebt, nahm die mit 30 000 Euro dotierte Auszeichnung der Deutschen Nationalstiftung am Donnerstag in Berlin entgegen. Den mit 20 000 Euro dotierten Förderpreis teilen sich die Jugendorchester-Projekte Hangarmusik und Démos aus Berlin und Paris.
In seiner Lobrede sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Kiefer habe sich "wie kaum ein anderer Künstler um die Aufarbeitung deutscher Geschichte verdient gemacht". Unter anderem in Frankreich sei der Künstler ein wichtiger Botschafter des geschichtsbewussten und modernen Deutschlands. Kiefers Kunst sei es, "das in unserer deutschen und europäischen Geschichte Verschüttete freizulegen".
Der Autor Florian Illies nannte Kiefer einen "deutschen Lebenslügendetektor" und verwies auf den Umgang des Künstlers mit der Geschichte. "Anselm Kiefer verweigert uns seit fünf Jahrzehnten, der deutschen Vergangenheit zu entkommen." Für die Stiftung sagte der Vorstandsvorsitzende Thomas Mirow: "Selten hat ein herausragender Künstler unserer Zeit sein künstlerisches Erbe so eng mit der Durchdringung des geschichtlichen Vermächtnisses zweier Nationen verbunden."
Kiefer brach als Künstler früh das Tabu der Darstellung von Nazisymbolik, was ihm in Deutschland viel Kritik einbrachte. So inszenierte er in der NS-Uniform seines Vaters den Hitler-Gruß. Zu seinen menschenleeren Arbeiten in einer trostlosen und gespenstischen Stimmung gehören graue mit Asche und Stroh bedeckte skulpturale Landschaftsbilder, in Gipsmäntel gehüllte Sonnenblumen und Bleibücher, riesige Tafelbilder, in denen die Sonne explodiert und die Erde einstürzt. Für den Künstler ist die Malerei Reflexion und Recherche.
Kiefer sieht die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland heute als so gut wie aufgehoben an. "Ich fühle mich jedenfalls in beiden Ländern zu Hause", sagte er in seinem Dank für die Auszeichnung. Durch soziale Medien sind aus seiner Sicht Grenzen nicht aufgehoben. "Das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein", sagte Kiefer. Die digitale Revolution habe eine berührungslose Gesellschaft erzeugt. Der "Tsunami an Informationen und Kontaktmöglichkeiten" bewirke das Gegenteil dessen, was er verspreche. Den Dingen werde nicht mehr auf den Grund gegangen.
Mit dem Preis zeichnet die 1993 von einer Gruppe um Ex-Kanzler Helmut Schmidt gegründete Stiftung seit 1997 nach eigenen Angaben Menschen aus, die einen Beitrag zum Zusammenwachsen Deutschlands und zur Pflege der Beziehungen zu den europäischen Nachbarn geleistet haben.