Frauen winden sich um Stangen und bezirzen Männer in einem luxuriösen New Yorker Stripclub, laute Musik aus den Boxen, die Menschen lächeln. Anora (Mikey Madison), 23, will hier als Tänzerin ihr altes Leben hinter sich lassen. Eines Abends lernt sie Ivan (Mark Eydelshteyn) kennen, den Sohn eines russischen Oligarchen. Er schwimmt in Geld, hat einen Hang zu Kokain und Partys und weiß, dass er gut aussieht. Der verwöhnte Junge macht gerade Urlaub in der Villa der gleichgültigen Eltern, langfristig hat den Plan, die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zu erlangen, um sich von ihnen zu lösen. Aber der 21-Jährige, der auch Walja genannt wird, hat auch eine sanfte Seite, wie Anora bald herausfindet. Die Tragikomödie "Anora" erzählt die Geschichte dieses ungleichen Paares. Junge trifft Mädchen, die alte Geschichte, immer wieder schön.
An Anora scheint und glänzt alles: die gemachten Nägel mit dem kleinen Schmetterling-Press-Ons, ihre glitzernden Strähnen in ihrem langen, braunen Haar und ihr Make-up, das immer sitzt. Außerdem kann sie fluchen wie niemand sonst in diesem Film. Sie ist weich und sensibel, doch nach außen hin wirkt sie unerschütterlich. Sie hat ein klares Verständnis davon, was richtig und was falsch ist. Sie zögert nicht lange, sich das zu nehmen, was sie will.
Ihre Rolle hat Mikey Madison selbst zusammen mit dem Regisseur Sean Baker entwickelt. Sie habe sich mit Sexarbeiterinnen getroffen, Tanzkurse gemacht und die Welt der Sexarbeit von vielen Seiten über Monate recherchiert, erzählt sie in Interviews. Der Film ist auch ein authentisches Porträt von moderner Sexarbeit. Regisseur Sean Baker ("Red Rocket", 2021, und "The Florida Project", 2017) erforscht damit eine weitere Seite der US-Gesellschaft und hat dafür beim Filmfestival Cannes die Goldene Palme gewonnen.
Für was lohnt es sich zu kämpfen
Die Figuren entwickeln sich zu sich hin und dann wieder voneinander weg, sie haben eine wahnsinnige Kraft in sich. Anora stürzt sich geradezu in die Beziehung mit Walja. Erst für eine Nacht, dann für eine Woche. Er fragt sie, ob sie mit ihm für sieben Tage exklusiv zusammen sein möchte, sie stimmt zu. Danach macht er ihr einen Heiratsantrag. Ihre Beziehung ist romantisch und kaputt. Walja vermeidet es, Anora zu erzählen, wie schwierig das Verhältnis zu seiner Familie wirklich ist. Er steht vor einer Entscheidung: Liebe oder Geld. Als sein Vater erfährt, dass sein Sohn eine Sexarbeiterin in Las Vegas geheiratet hat, hetzt er drei Typen auf das Paar.
An "Anora" ist vieles grotesk und slapstickhaft. Aber lebendige Dialoge und die schauspielerische Leistung der beiden Hauptrollen erden den Film: Walja und Anora toben vor Wut und sie sehnen sich nach Liebe. Der Film geht der Frage nach, für was es sich zu kämpfen lohnt und wann es besser ist, Grenzen zu ziehen. Es geht ums Erwachsenwerden. Ein Großteil der Handlung spielt im Januar, dem Monat der Neuanfänge: Schneelandschaften, Stille und die Leere einer Stadt erzeugen eine ganz besondere Stimmung. Wenn Anora und Walja Farben wären, wäre sie Pink und er Hellblau, und obwohl das das größte Klischee ist, wirkt hier nichts klischeehaft. Dass Sean Baker das hinbekommt, ist die größte Leistung des Films.