Die Patientin, der Diagnose nach hochgradig psychotisch und mit schizophrenen Schüben, ist jetzt also mit dem Pfleger zusammen. Der hat inzwischen gekündigt. Und nicht nur das: Die Patientin, Anfang 20, ist auch schwanger und bekommt ein Kind von dem Mann, der sie während ihrer Zeit in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt betreut hat.
Diese nüchtern vorgetragenen Fakten sorgen für sichtliche Unruhe in der Runde. Um einen Tisch in einem unauffälligen Sitzungsraum ist eine Gruppe Männer und Frauen versammelt, bei der es sich der Kleidung nach um medizinisches Personal handelt. Schnell haben sie sich wieder gefangen und diskutieren in professionellem Duktus, wie diese heikle Situation zu bewerten und was zu tun ist. Alle sind sich einig, dass hier eine Grenzüberschreitung vorliegt. Selbst, wenn die Patientin zu nichts gezwungen wurde, gibt es hier ein Machtgefälle: Die junge Frau ist aufgrund ihres Zustands verletzlich, der Mitarbeiter hat zweifellos seine Fürsorgepflicht missachtet. Und das in einer Klinik, deren wichtigste Aufgabe es ist, den Menschen, denen sie etwas Grundlegendes genommen hat, nämlich ihre Bewegungsfreiheit, etwas anderes Grundlegendes zurückzugeben: Sicherheit.
Schnell kommt man zu dem Schluss, dass nun behutsam vorzugehen ist und das Team zuerst mit allen Beteiligten Gespräche führen will. Nie wird die Möglichkeit ausgeschlossen, dass es sich hier tatsächlich um Liebe handeln könnte. Doch die Umstände erfordern ein genaues Hinsehen und enge therapeutische Begleitung.
Psychose als Performance
Das Gespräch wird durch eine Frau unterbrochen, die ebenfalls in Weiß gekleidet ist, aber offensichtlich nicht zur Konsultations-Besetzung gehört. Sie stellt sich als Anna Odell vor, als Künstlerin, und erklärt den Ärztinnen und Pflegern, was sie da gerade besprochen haben: ihren eigenen Fall aus den 1990er-Jahren.
Diese Szenen sind Teil von Odells neuer Videoarbeit "Rekonstruktion - Psyket", die gerade im Kunstmuseum der norwegischen Stadt Trondheim zu sehen sind. Die schwedische Künstlerin und Filmemacherin, geboren 1973, ist in ihrem Heimatland vor allem für ihre Performances bekannt, die schon für landesweite, hitzige Diskussionen gesorgt haben. Besonders kontrovers war ihr Projekt "Okänd, kvinna 2009-349701" (Unbekannt, Frau), das zu ihrer Abschlussarbeit an der Kunstakademie in Stockholm gehörte. Für die "Aufführung" täuschte Anna Odell auf einer Brücke in der belebten Innenstadt einen Suizidversuch vor und wurde aufgrund einer "psychotischen Episode" in eine geschlossene Anstalt zwangseingewiesen.
Ein Ziel der Arbeit war, Fragen nach Machtverhältnissen und dem schmalen Grat zwischen Schutz und Übergriffigkeit gegenüber einer Person in einem psychischen Extremzustand zu stellen. Odell konnte aus ihrer Performance nicht einfach wieder aussteigen, obwohl sie sich wenig später als Kunststudentin zu erkennen gab – das Psychiatriesystem sieht nicht vor, dass sich jemand selbstbestimmt wieder für "gesund" erklärt.
Die Kunst als Medium der "Anderen"
Obwohl die Aktion in der Kunstwelt für Aufmerksamkeit und Anerkennung sorgte, gab es auch viel Kritik. Ist es legitim, therapeutische Ressourcen zu binden, die Personen in wirklichen Notlagen vielleicht nötiger gebraucht hätten? Und verharmlost man eine Psychose, wenn sie als Performance-Material beliebig an- und abgeschaltet werden kann?
Was Anna Odell jedoch geschafft hat, ist, die Kunst als Mittel der psycho-sozialen Analyse in den Fokus zu rücken. Schließlich hatte diese Disziplin schon immer große Sympathien für das Andersartige, vermeintlich Verrückte. Was in der Mehrheitsgesellschaft sanktioniert wurde, war in der Kunst als Ausdrucksmittel durchaus anerkannt und "ausgelagert". Und was durch die Jahrhunderte hindurch als "krank" und therapiebedürftig gesehen wurde (siehe "hysterische Frauen" oder Homosexualität) liegt immer auch in sozialen Normen begründet.
Im Film "Rekonstruktion - Psyket" kommt Anna Odell nun auf all diese Fragen zurück – verzichtet jedoch auf jegliche Form von Spektakel. Vielmehr scheint sie selbst verstehen zu wollen, was ihr vor über 30 Jahren im Psychiatrie-System passiert ist. Vor ihrer Performance war sie als junge Frau tatsächlich mehrmals in einer geschlossenen Station untergebracht – und wurde von einem ihrer Pfleger schwanger.
Erinnerung füllt die Lücken
Neben den Szenen, in denen Odells Fall aus heutiger Sicht besprochen wird, besteht die Zwei-Kanal-Arbeit vor allem aus Telefongesprächen. In Großaufnahme sieht man das seltsam teilnahmslose Gesicht der Künstlerin, während sie mit anonymisierten Protagonistinnen von damals spricht. Was haben die Ärztinnen, Pflegerinnen und Betreuer gedacht, gewusst, bewusst verschwiegen? Warum bricht die vorher so sorgfältig geführte Patientinnenakte genau dann ab, als die Beziehung und die Schwangerschaft bekannt wurden?
Wo die vermeintlich objektiven Informationen aufhören, setzt die individuelle Erinnerung ein – und die ist bekanntlich trügerisch. Wenn sich die Versionen der Ereignisse unterscheiden, muss sich auch das Publikum entscheiden, wem es Glauben schenkt. Einer professionellen Pflegekraft, die versichert, dass nichts vertuscht wurde, oder der Künstlerin, die überzeugt ist, dass sie nicht alles erzählt bekommt – die aber auch ihrer eigenen Erinnerung nicht trauen kann, weil sie zu der Zeit des Klinikaufenthalts teilweise unter einem Bettlaken saß und jeden Kontakt mit der Außenwelt verweigerte.
Der Film urteilt nicht und liefert keine klaren Antworten – was seine große Stärke ist. Vielmehr zeigt er, wie viele verschiedene Motivationen und Gefühlslagen in einer vermeintlich nüchternen Institution wie einer geschlossenen Psychiatrie zusammenspielen. Da ist die warm klingende, pragmatische Schwester, die der jungen Anna einen Motorrad-Ausflug verordnete, sich manchmal wie ihre Mama fühlte und ihr am liebsten das lange Haar abschneiden wollte, hinter dem sie sich immer versteckte. Alles Grenzüberschreitungen, keine Frage, aber solche, die eine persönliche Zuneigung zu einer Patientin ausdrücken und sie stärken sollten. In den Telefonaten erfahren die Zuschauer von Momenten der Gewalt, aber auch der Wärme und Fürsorge. Alle Gesprächspartner betonen, dass sie Anna Odell helfen wollten, aber was dafür nötig und angemessen war, bleibt eine Frage der Auslegung.
Nichts bleibt eindeutig
Schließlich spricht die Künstlerin auch mit "Rikard", dem ehemaligen Pfleger und Vater ihres Kindes, zu dem sie offenbar nicht oft Kontakt hat. Als immer deutlicher wird, dass die Beziehung zu seiner Patientin für ihn eher ein "Opfer" oder ein "Projekt" als eine Verbindung aus Liebe war, dass er sich mit Odin oder Jesus vergleicht, läuft es einem kalt den Rücken herunter. Aber auch hier scheint ein eindeutiges Urteil unmöglich. Denn Anna Odell sagt selbst, dass die Schwangerschaft sie damals gerettet habe. Die Aussicht, für etwas anderes Verantwortung zu tragen als für sich selbst, habe die Rückkehr in ein normaleres Leben ermöglicht.
Genau diese Ambivalenz und die Offenheit, mit der die Künstlerin ihren ehemaligen Betreuern begegnet, macht den Film so erschütternd und eindringlich. Die Kunst behauptet nicht, dass sie etwas besser weiß als die Medizin. Sie stellt nur die Frage, aus wessen Blickwinkel und mit welchen Werkzeugen wir einen Fall betrachten wollen.
In der Realität, soweit diese denn aus all den subjektiven Erzählungen destillierbar ist, ist die Behandlung von Odells Fall ganz anders gelaufen als in der idealtypischen Empfehlung vom Anfang des Films. Ob letztlich der Schaden oder der Nutzen überwogen haben, kann wohl nur die Künstlerin selbst bewerten - von der man übrigens auch in Deutschland gern viel mehr sehen würde. Sie verweigert dieses Urteil jedoch bewusst. Sie überlässt das letzte Wort einer Ärztin: "Wir sollten dankbar für die Grenzen sein, die es gibt", sagt die Telefonstimme. "Aber auch für jene Menschen, die die Grenzen zuweilen überschreiten."