Am 6. Juni 1988 erschien das US-amerikanische Nachrichtenmagazin "Time" mit einer Titelgeschichte über Raisa Gorbatschow, die Ehefrau des in diesem Jahr verstorbenen letzten Staatspräsidenten der Sowjetunion. Neben einem Porträt, das sie strahlend lächelnd, aufgeweckt und mit modischem Pixiehaarschnitt zeigt, lautet die Überschrift der Story: "Raisa - A new image for the Sowjet Union's overworked, underappreciated women". Bemerkenswert ist dabei nicht nur, dass Frau Gorbatschows Bekanntheit offenbar soweit vorausgesetzt werden konnte, dass allein ihr Vorname genügte, um sie dem amerikanischen Publikum zu präsentieren, sondern auch, dass "Raisa" stellvertretend für die neue sowjetische Frau steht.
Dies ist, so suggeriert das Foto, eine weltoffene Person, die das düstere, von grauen Politbonzen und undurchdringlichen Mienen geprägte Sowjetimperium durch Charme und Esprit ausgebremst hat. Bemerkenswert aber ist auch das Emblem unter ihrem Namen, eine grafische Fusion von Internationalem Frauenzeichen und dem kommunistischen Hammer und Sichel des Arbeiter- und Bauernstaats. Dies alles signalisiert Wandel und Aufbruch in eine neue Epoche - eine Epoche, die nur ein Jahr später mit dem Fall des Eisernen Vorhangs einen Kristallisationspunkt erreichen würde.
Zu dieser medialen Präsentation als neuem Gesicht einer Bewegung gehört indes auch ein besonderer Look, der mit einem eigenen Kleidungsstil verbunden ist: Raisa Gorbatschow trägt eine Bluse in apartem Streifenmuster in hellen, bunten Farben. Und dieser Look hat einen Namen: Anna Andreeva. Als Künstlerin einer staatlichen Textilfabrik entwarf sie im Laufe ihres Lebens hunderte von geometrischen Designs, die eine eigene Form von russischem Modernismus begründeten: Etwas, das die staatlichen Eliten eigentlich durch die Etablierung des strikt figurativen Sozialistischen Realismus zu verhindern suchten. Raisa Gorbatschow, und mit ihr viele weitere Berühmtheiten des öffentlichen Lebens, in der Sowjetunion liebten aber gerade diese frischen Motive und den damit verbundenen Stil.
Autonome Designentwürfe
Anna Andreeva (1917-2008) war aber nicht nur eine experimentelle Künstlerin, die beispielsweise den Zufall in ihre Designs einbaute, sondern auch eine bemerkenswerte, unabhängige Figur innerhalb der russischen Kulturwelt, da sie nie Mitglied der kommunistischen Partei war. Sie war die führende Entwerferin in einer der prestigeträchtigsten und stolzesten staatlichen Textilfabriken, der nach Rosa Luxemburg benannten Red Rose Silk Factory, wo sie Schals und Stoffe entwarf, gleichzeitig aber das rigide kontrollierende Politsystem ständig mit ihren autonomen Designentwürfen unterlief.
Geboren wurde sie in eine aristokratische russische Familie in der Nähe von Tambov, rund 400 Kilometer südöstlich von Moskau, wo sie die Wirren der kommunistischen Revolution als kleines Kind erlebte. Sie erhielt ihre Ausbildung zur Textildesignerin in der berühmten Schule der Vchutemas, der radikalen Avantgarde-Schmiede der frühen Sowjetzeit.
Wurden Frauen am Bauhaus der Weimarer Republik - dem Pendant zu den Vchutemas - eben aus dem Grund, weil sie das falsche Geschlecht verkörperten, nicht zur Architekturausbildung zugelassen, so war die diesbezügliche Ablehnung, die Andreeva erfuhr, ihrer aristokratischen Herkunft geschuldet. Die Konsequenz war in beiden Fällen dieselbe: Frauen besuchten die Textilklassen ihrer avantgardistischen Schulen, weil Textil ein vermeintlich dem Weiblichen zugeordnetes künstlerisches Medium war.
Rückgriff auf abstrakte Tradition
Anna Andreeva konnte für ihre Designs bereits auf eine abstrakte Tradition zurückgreifen, die bis zum Konstruktivismus zurückreichte: Varvara Stepanova, Liubov Popova oder Ludmila Mayakovskaya (die Schwester von Vladimir Mayakovski), führende Künstlerinnen Moskauer Textilfabriken, hatten in den 1920er-Jahren begonnen, Stoffe mit abstrakten Mustern zu entwerfen. Diese Annäherung an die internationale Avantgarde hielt sich nur kurze Zeit: Die Verbannung jeglicher abstrakter Kunst wurde später mit dem Verweis auf deren "bourgeoise" Herkunft begründet.
Als Anna Andreeva 1941 in die staatliche Red Rose Silk Factory aufgenommen wurde, hatte sie ihre Ausbildung beendet und war eine junge Künstlerin, imprägniert von modernistischen Ideen und immer auf der Suche nach einer wissenschaftlichen, beziehungsweise einer mathematischen Begründung ihrer Kunst.
Sie interessierte sich für die Beziehungen zwischen dem ästhetischen Auftritt und dem materiellen Gefüge, die sich im Textilen aus dem repetitiven Entstehungsprozess des Rapports (der irreversiblen Wiederholung eines Musters) ergeben. Und so entwarf sie geometrische Kubenmuster, Stoffe mit verschiedenen Zahlenkombinationen oder von der damaligen Modewissenschaft Kybernetik inspirierte Ornamente, die algorithmische Strukturen zu zitieren scheinen.
Das Handy verlangt den QR-Scanner
Sie erfand vorzeitig ein Design, das mit einem QR-Code gleichgesetzt werden kann, und zwar bereits im Jahr 1978. Wie ähnlich dieses Muster der heutigen Matrix tatsächlich ist, illustriert die Tatsache, dass es einem Besucher vor ein paar Jahren in der Moskauer Tretjakow Galerie nicht gelang, ein Bild davon mit dem Smartphone zu fixieren, da das Handy die Verwendung eines QR-Scanners forderte.
Jedoch waren gerade solche Entwürfe enorm rechtfertigungsbedürftig bevor sie in die Produktion gingen. Inzwischen hatte sich der Imperativ der staatlichen Kunstdoktrin gedreht, er lautete nun Sozialistischer Realismus, Figuration war Gebot. Dass Anna Andreeva in dieser Situation überhaupt entwerferisch tätig sein konnte, war ihrer immensen Originalität geschuldet, die es ihr erlaubte, künstlerisch-revolutionäre Designs mit den offiziellen Maßstäben der proletarischen Eliten zu vereinbaren.
Für manche ihrer abstrakten Entwürfe, wie beispielsweise den sich überlappenden Zickzackmustern des "Electrification"-Zyklus, der von den 1960ern bis 1974 produziert wurde, musste Andreeva anfangs eigene Erzählungen erfinden, um die Designs bei den staatlichen Zensurbehörden durchzubringen. Dieses spezielle Muster wurde zunächst als "pure abstrakte Propaganda" abgelehnt, und erst als die Künstlerin argumentierte, dass Elektrizität einer der zentralen Stützpfeiler der sowjetischen Entwicklung sei, ging der Entwurf durch und wurde schließlich auch für sowjetische Prestigeprojekte wie die Raumausstattung des Rundfunkgebäudes verwendet.
Rare Beispiele der sowjetischen Op Art
Oft gelang dies auch nicht, sodass ihre Skizzen zurückgewiesen wurden oder überarbeitet werden mussten. So wie "1/2 of the Moon", ein Entwurf mit einem Mondsujet, das in die Unendlichkeit expandiert, unterlegt von Schrift in offenbar zu kräftigen Pink- und Orangetönen. Zu den anfangs abgelehnten und später doch sehr erfolgreich verwendeten Designs gehört auch eine frühe Op-Art-Skizze mit gelben und grauen Kreis- und Spiralsegmenten. Das Motiv war später so beliebt, dass es auch als Basis für eine Gedenkmedaille einer Veranstaltung der Tala Red Young Artists verwendet wurde. Es sind Entwürfe wie diese, die heute rare Beispiele einer eigenen sowjetischen Op Art darstellen.
Im Alltag waren Anna Andreevas abstrakte Designs ohnehin erfolgreich, und sie waren sehr beliebt - vor allem bei den Frauen der verschiedenen Sowjetrepubliken. Diese trugen ihre Schals und Textilien mit den smarten geometrischen Mustern offiziell nicht deshalb, weil sie schick waren, sondern weil sie "die sowjetische Frau schlanker machten". "The Sovjet street is wearing my design" würde Andreeva später zu ihrer Enkelin Xenia Vytuleva-Herz sagen, die das Archiv ihrer Großmutter heute verwaltet.
Aufgrund des Erfolgs ihrer Stoffe wurde Andreeva auch immer wieder beauftragt, offizielle Anlässe oder Gedenkfeiern mit sogenannten "Commemorative Designs" zu versehen: mit ihren grafischen Entwürfen wurden besondere kollektive Anlässe gewürdigt, zum Beispiel Weltausstellungen, Olympische Spiele oder Weltraumprogramme. Als "Cultural Diplomacy" waren Andreevas Textilien auch im politisch aufgeladenen Klima des Kalten Krieges gefragt, wenn es darum ging, exklusive Geschenke für Staatsempfänge zu designen. Anlässlich des ersten offiziellen Besuchs einer sowjetischen Delegation seit dem Fall des Zarenreichs war es Juri Gagarin, der erste Mann im Weltraum, der 1961 der britischen Queen Elizabeth II. einen Souvenirs-Schal Andreevas mit dem erwähnten Raumfahrtmotiv überreichte. Das Stoffstück mit einem kosmistischen Sujet in extravagantem Schwarz und Gold ist heute Teil der Sammlung des Museum of Modern Art in New York.
Revolotionäre Botschaften
Kultur hat die Macht, eine eindeutige Botschaft subtil zu vermitteln: Wenn der britischen Königin ein Halstuch mit einer Verherrlichung russischer Technologie überreicht wird, so kann dies als eine Demonstration der Überlegenheit der sowjetischen Raumfahrtprogramme gegenüber den westlichen Mächten angesehen werden, einer Geste, deren Kraft sich der Staatspräsident Chruschtschow wohl bewusst war. "Soft Power", nennt man dieses Instrument kultureller Diplomatie heute - und gerade im gegenwärtigen hitzigen Klima des erneuten Cold-Hot-War wäre diese vielleicht eine adäquate Strategie, um im Hintergrund Friedensbemühungen im Ukraine-Konflikt zu unterstützen.
Welche Aktualität liegt indessen in Anna Andreevas Werken? US-amerikanische Institutionen wie die Getty Foundation in Los Angeles oder das New Yorker MoMA kauften oder kaufen gerade Textilien und Skizzen der russischen Künstlerin für ihre Sammlungen. Nach Lyubov Popova ist Andreeva erst die zweite sowjetische Künstlerin, deren Werke in die permanente Sammlung des MoMAs aufgenommen wurden. Auf der Paris+ par Art Basel präsentierte die Wiener Galerie Emanuel Layr erstmals Werke der 2008 verstorbenen Künstlerin auf einer Messe.
Das internationale Interesse, das sich auch am Kunstmarkt spiegelt, ist Teil einer wachsenden Anerkennung für übersehene Akteurinnen aus der Zeit des Kalten Krieges, die wie in einem Vakuum gearbeitet haben. Und die erneute Notwendigkeit einer klaren Stellungnahme gegen den Ukrainekrieg führt zur Wiederentdeckung von Andreevas eigenständiger kreativer Praxis. Diese ist imstande, revolutionäre Botschaften mit Intelligenz und Charme so zu verknüpfen, so dass sie auch für die Gegenseite genießbar werden - Kulturdiplomatie eben. Modisches Design einer weltoffenen Künstlerin ist eine effiziente "Soft Power", das wusste schon Raisa Gorbatschow.