Er hat gigantische Kugeln geschaffen, schwindelerregend schwarze Löcher in Museumsböden gebohrt und eine riesige spiegelnde "Bohne" in den Millennium Park von Chicago gepflanzt. Wie soll man Anish Kapoors zwischen Unübersehbarkeit und Unsichtbarkeit wechselndes Werk beschreiben?
Man könnte über die Farbe und ihre psychologische Wirksamkeit sprechen, als Brücke zwischen materieller und geistiger Welt. Scheinbar nur aus Farbpigmenten geformt (darunter verborgen: stabile Holzkerne) waren die Kleinskulpturen seiner frühen Serie "1000 Names" (1979-1980). Die mal stereometrischen, mal geschwungenen oder bizarr zerklüfteten Mini-Architekturen schienen stets magisch aus einem Pulverhaufen herauszuwachsen. Als hätte man sie wegpusten können.
Kapoor, am 12. März 1954 in Mumbai geboren, reiste im Jahr 1979 kreuz und quer durch Indien. Dabei stieß er auf das verschiedenfarbige Pigmentpulver, das häufig vor Tempeln verkauft wird und mit dem sich die Feiernden des Holi-Festes im Frühling gegenseitig bewerfen. Pigmente sind aber nicht nur für die "1000 Names" wichtig, die Farbstaubwolke zieht sich sozusagen durch Kapoors Karriere.
Eine Abfuhr für die Identitätspolitik
Mitte der 2010er-Jahre faszinierte ihn "Vantablack", das lichtschluckende Pigment, an dem Kapoor 2016 sogar die exklusiven künstlerischen Rechte erwarb. Vor allem von Kunstschaffenden musste er für sein Schwarz-Monopol heftige Kritik einstecken. Das von der britischen Firma Surrey NanoSystems produzierte "schwärzeste Schwarz der Welt", so der Werbeslogan, wurde von Kapoor zum Einfärben – oder Entfärben – von Objekten und Löchern verwendet. Im Jahr 2018 kam es zu einem Unfall im Park des portugiesischen Serralves-Museums. Ein Ausstellungsbesucher stürzte in das 2,50 Meter tiefe, mit Vantablack versehene Loch eines Kapoor-Environments. Der Italiener hatte das Loch in der Bodenmitte des begehbaren Betonwürfels "Descent into Limbo" für einen Kreis gehalten – und eine optische Täuschung.
In den 1990ern wurde Kapoor zum bekanntesten Künstler aus Indien. 1991 bekam er den Turner-Preis, 2011 wurde er in Tokio mit dem Praemium Imperiale ausgezeichnet, 2013 von der Queen zum Ritter geschlagen. Seit den 1970ern lebt er in London, wo er auch Kunst studierte – zuerst 1973 am Hornsey College, später dann am Chelsea College. Manche meinen, die spirituelle Ausrichtung seiner Kunst würde auf seine Herkunft hindeuten. Aber der Sohn eines indischen Hindus und einer jüdischen Irakerin ist ein ausgesprochen internationaler Künstler.
Es muss erwähnt werden, dass Kapoor Indien schon als 16-Jähriger verließ und dann in einem Kibbuz in Israel lebte, bevor er nach London ging. Identitätspolitischen Deutungen hat er stets eine Abfuhr erteilt. In Venedig, wo er 1990 an der Biennale teilnahm, brachten ihn entsprechende Interpretationen geradezu in Rage: "Die Leute sind hier hereingekommen und meinten, die Ausstellung rieche eigenartig. 'Haben Sie indische Gewürze verwendet?' Unfassbar, wie weit diese Fantasien gehen, und ich finde, dass man sich mit großer Wut und Energie dagegen wehren sollte", erklärte Kapoor damals im Interview mit seinem Künstlerkollegen William Furlong.
"Too big to fail"
Worum geht es bei Kapoor? Um abstrakte Setzungen, die spirituelle Erfahrungen ermöglichen. Betrachterinnen und Betrachter, die sich nicht selten in den Werken sogar spiegeln, vollenden die Arbeit. Kapoors Installationen und Objekte sind keine "autonomen" Werke, die vom Publikum absehen. Vonseiten der kritischen Zunft wird ihm oft Effekthascherei vorgeworfen. Schlimmer noch: reaktionäre Tendenzen. "Kapoors kulinarisch klatschende Materialschlachten sind das ästhetische Echo ganz anderer Schlachten", schrieb Niklas Maak in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" 2013 anlässlich der Kapoor-Soloschau im Berliner Gropiusbau.
Maak verwies auf den Milliardär und Stahlunternehmer Lakshmi Mittal, für den Kapoor den "ArcelorMittal Orbit"-Aussichtsturm in London mitentworfen hatte. Mittal kam durch katastrophale Arbeitsbedingungen, teilweise mit Todesfolge, in seinen Betrieben in Verruf. Maak nannte Kapoors Turm einen "Nachfolger klassischer Herrscherporträts"; die Beliebtheit seiner monumentalen Kunst "bei Stahlmagnaten und Großkonzernen könnte damit zusammenhängen, dass sie Gewalt zum unterhaltsam-erhebenden ästhetischen Erlebnis veredelt", so der "FAZ"-Redakteur.
Trotz aller (berechtigter) Kritik: Kapoors Schaffen ist aus der Gegenwartskunst nicht wegzudenken. Zumindest nach der Devise "Too big to fail" kommt man an seinem Werk ohnehin nicht vorbei. Seit September 2020 ist in der Rotunde im Entree der Münchener Pinakothek der Moderne eine nach Allen Ginsbergs epischem Gedicht "Howl" benannte Riesenkugel aus dunklem PVC installiert. Die 14 mal 22 Meter große Skulptur füllt den Raum mit einem monochromen Oval aus. Die einen staunen, die anderen ärgern sich – speziell über Kapoors Erklärung, die Skulptur sei "Ausdruck von weiblicher Kraft und Leidenschaft", und man könne ihre braun-rote Farbe "auch mit Menstruationsblut assoziieren". Müssen wir? Was wir dringend tun müssen: Einem schillernden Großmeister der Gegenwartskunst zum 70. Geburtstag gratulieren. Happy Birthday, Anish Kapoor!