Arvida Byström ist genervt. Ach, eigentlich ist es ihr herzlich egal. Erstaunt trifft es vielleicht besser als genervt. Die schwedische Künstlerin, Jahrgang 1991, wundert es, welche Ansprüche an Künstlerinnen wie sie gestellt werden, die über die sozialen Medien groß geworden sind.
Wenn sie sich die Beine rasiert, ist sie keine Feministin. Wenn sie sich die Beine nicht rasiert, ist sie eine feministische Künstlerin, die nach Aufmerksamkeit giert. Und spätestens jetzt werden sich die ersten Kommentatoren denken: Heul doch! Das macht sie nicht. Sie lacht viel, sehr viel, und schüttelt oft den Kopf während unseres Gesprächs über Feminismus, Kunst und das Internet.
Wir haben uns zum Frühstück in einem Café in Berlin-Mitte verabredet, sie ist für ein Foto-Shooting in der Stadt, bei dem sie nicht hinter, sondern vor der Kamera steht. Arvida Byström ist nämlich auch Model und Influencerin. Das sind zwei weitere Gründe, sie nicht besonders ernst nehmen zu müssen, denken sich Kritiker und sagen das auch laut.
Ihr Name fällt immer, wie der von Petra Collins, Molly Soda und Amalia Ulman, wenn es um die jüngste Generation feministischer Künstlerinnen geht, deren bevorzugter Kommunikationskanal das soziale Fotonetzwerk Instagram ist. Das hat einen sehr einfachen Grund: Tumblr ist nicht mehr so groß wie einst, also sind sie mit ihrem Publikum umgezogen.
Der Peak des Selfie-Feminismus (Aria Dean) oder auch Feminismus 4.0, wie die Bewegung genannt wird, war in den Jahren 2015 bis 2017. Ihre Protagonistinnen zeigen sich feminin, sexy, traurig. Gedankenverloren schauen sie in ihre Smartphones, in Spiegel oder in die Augen des Betrachters. Überall Pink, Haare, Blut und Oma-Schlüpfer. Die Reaktion in den klassischen und sozialen Medien: Was wollen die? Ernsthaft, das ist jetzt also Feminismus? Mit Selfies soll das Patriarchat bekämpft werden? (Monopol 06/07/2016)
Für Byström ist das alles sehr lang her. Das "Vice"-Magazin hat 2012 ihre Serie "There Will Be Blood" publiziert, da war sie 21. Die Fotos zeigen menstruierende Mädchen, meist in der Öffentlichkeit, beispielsweise mit blutigen Höschen (im Café sitzend) und an Beinen herunterlaufendem Blut (an der Bushaltestelle stehend, beim Joggen).
Im Jahr 2015 ist das Buch "Babe" der kanadischen Fotografin Petra Collins erschienen, es versammelt Arbeiten von 30 Künstlerinnen, die Teil ihrer Online-Plattform "The Ardorous" sind beziehungsweise waren. 2017 haben Arvida Byström und die amerikanische Künstlerin Molly Soda die Publikation "Pics or It Didn't Happen" herausgegeben; die beiden baten öffentlich um Zusendung von Bildmaterial, das von Instagram zensiert wurde, weil es gegen die Richtlinien der Community verstieß. Im selben Jahr ist das Fotobuch "Coming of Age" von Petra Collins erschienen, 2018 folgte das Buch zur Performance "Excellences & Perfections" von Amalia Ulman, der Titel lautete etwas anders, nämlich "If You Don’t Pay My Bills".
Die Bücher eint der Rechtfertigungszwang in den Texten und das Reden darüber, wie schwer es als Künstlerin ist, Anerkennung zu finden. Petra Collins beispielsweise unterhält sich mit Marilyn Minter – die Grande Dame erzählt ihr, wie es vor Jahrzehnten war, von der Kunstwelt ausgeschlossen und erst später anerkannt und gefeiert zu werden. Sie sagt Sätze wie: "Meine Generation konnte mich nicht sehen, weil es damals noch Hierarchien in der Kultur gab." Collins erklärt ihr, dass es diese Hierarchien auch heute noch gibt, nur hat sie das Internet und die sozialen Medien. Collins hat mittlerweile fast eine Million Follower auf Instagram, sie fotografiert Kampagnen für Gucci und Titel für das Magazin und Modelabel "032c". "Du bist der Punk, nach dem ich gesucht habe", Minter bewundert Collins. Der wiederum ist die Kunstwelt recht egal, weil, das sagt der Shootingstar, elitäres Kunstschaffen nicht verändern würde, wie Menschen die Welt sehen.
Byström derweil lässt sich mit ihren knapp 250.000 Followern als Influencerin beauftragen, damit sie Geld für ihre Kunst und eine Assistentin hat. Für Adidas bewirbt sie Sneakers, für Gucci Parfum und für Urbanears Kopfhörer. Geldjobs von Künstlern und Künstlerinnen sind in Zeiten sozialer Medien leichter sichtbar, und wenn sie Reichweite aufgebaut haben, ist die Sichtbarkeit das Ziel von Unternehmen.
Und genau hier setzt die Kritik am Feminismus heute an. Unter diesen Vorzeichen ist Ende des Jahres ein Themenband des "Kunstforum" erschienen, der Titel: "Die vierte Welle!?" Was sich noch leicht fragend, vielleicht mit Staunen liest, ist dann im Wesentlichen eine harsche Kritik an den jungen Künstlerinnen.
Die Kritik kommt an sehr vielen Stellen falsch daher. Zunächst ist da einmal das Missverständnis, dass sie sich als feministische Künstlerinnen verstanden wissen wollen. Als solche werden sie vom Herausgeber des Themenbandes, Oliver Zybok, eingeführt und verurteilt. Belege für diese Behauptung führt er nicht an. Wenn man einmal bei ihnen nachfragt, ob sie sich selbst als feministische Künstlerinnen einordnen, ist die Antwort: Ich bin Feministin, meine Kunst ist es nicht – oder nur zum Teil. Amalia Ulman sagt: "Meine Kunst würde ich nicht feministisch nennen. Kunst ist Kunst. Ich bin heute Feministin, weil ich in Argentinien aufgewachsen bin, wo Feminismus kein Thema war." (Monopol 3/2018) Oder Molly Soda: "Ich bin definitiv eine Feministin. Der Terminus Feminismus kann heute so unterschiedlich interpretiert werden. Zumindest in Amerika wird gerade sehr viel diskutiert, was es heißt, eine Feministin zu sein. Ich würde sagen, dass meine Kunst irgendwie feministisch ist. Aber ich würde nicht sagen, dass es in meiner Arbeit nur darum geht und dass ich mich darüber definieren möchte."
Molly Soda meint die Diskussionen um einen Feminismus, der mit Beyoncé und Lena Dunham im Mainstream angekommen ist und sich gut auf Instagram und Facebook macht, weil ein T-Shirt oder eine Tasse mit der Aufschrift "We should all be feminists" Likes sammelt. Feministinnen wollen keine mehr sein, seit der Feminismus trendet. Die feministischen Aktivistinnen Jessa Crispin und Andi Zeisler beispielsweise kritisieren den Markt- und den Lifestyle-Feminismus in ihren Büchern scharf. Jessa Crispin hat ein feministisches Manifest geschrieben, in dem sie auf 150 Seiten erklärt, warum sie keine Feministin mehr ist. "Wir waren doch mal Feministinnen. Vom Riot Grrrl zum Covergirl. Der Ausverkauf einer politischen Bewegung", heißt es bei Andi Zeisler im Titel. Klar, es ist gut, dass sich viele Menschen vom Feminismus angesprochen fühlen, so Zeisler, wenn sich allerdings nur die angenehmen Themen herausgepickt werden und alles weniger Spektakuläre oder Komplexe vernachlässigt wird, ist damit nicht viel geholfen.
Das wird auch den Künstlerinnen vorgeworfen. Im "Kunstforum" liest sich das etwa so: "Auch wenn sie sich mit vermeintlichen Makeln wie Körperbehaarung, Hautproblemen, unproportionalen Körpermaßen beschäftigt, verweint in Selfies präsentiert, stehen in diesen Fotos immer wieder extrem ihre Weiblichkeit betonende Bilder im Vordergrund, die einen starken Drang zur Selbstdarstellung vermitteln." Ihre Weiblichkeit würden sie zu sexualisiert darstellen, ihnen ginge es darum, den männlichen Blick zu befriedigen, für feministische Normvorgaben derweil würden sie sich nicht interessieren, dafür aber für ihre Identitätssuche, die sie in den sozialen Medien dokumentieren.
Das ist eine der Stellen im Gespräch, an denen Arvida Byström lange verständnislos den Kopf schüttelt. Sie war 18 oder 19, als viele der Bilder entstanden sind, für die sie heute international bekannt ist. Und es ist nicht so, dass sie jemals geglaubt hätte, mit einem Selfie das Ende des Patriarchats herbeiführen zu können. "Ein Selfie ist ein Selfie. Warum müssen Frauen Vorbilder sein, sobald sie semi-berühmt sind?", will sie wissen und schiebt eine rhetorische Frage hinterher: "Können Frauen vielleicht auch mal für eine Sekunde von ihren Körpern profitieren?"
Natürlich lautet die Antwort nein. Junge Künstlerinnen können ja nicht einmal die sozialen Medien wie junge Frauen nutzen. Zybok fragt sich im "Kunstforum": "Haben sie (Anm. der Redaktion: die Bilder) die von den Urheberinnen beanspruchte künstlerische Reichweite?" Seine Antwort: "Wenn man einzelne Bilder betrachtet, muss man eingestehen, dass zahlreiche sich wenig von denen unterscheiden, die Nutzer im alltäglichen Gebrauch digital als Schnappschuss verschicken. Der künstlerische Wert muss also in vielen Fällen hinterfragt werden." Ach!? Das liegt vielleicht daran, dass diese Bilder Schnappschüsse sind. Wenn eine Schauspielerin ein Selfie teilt, das sie im Bett mit Pickeln im Gesicht zeigt, wird das Selfie auch nicht mit ihrem neuesten Blockbuster verwechselt, sondern wird als launischer Kommentar zur Diskussion um Schönheitsideale und dem Zwang nach Perfektionismus in den sozialen Medien gesehen. Stichwort: I woke up like this. Petra Collins hat genau das gemacht, plus, sie streckt ihre Zunge heraus.
Ernsthaft, solch ein Posting soll jetzt also ein Indiz in der Beweiskette für die Irrelevanz des Feminimus heute sein? Er möchte die Bilder nicht als Konsumgut begreifen, derer man sich beim Surfen in den Social-Media-Kanälen je nach individueller Laune rasch entledigen kann. Medienkompetenz: ungenügend. Vielleicht möchten das nämlich die Absenderinnen, die sich mit einem Posting einer individuellen Laune rasch entledigen wollen. Oder sie möchten ein Posting als einen Kommentar zu einer aktuellen Diskussion verstanden wissen, etwa um Schönheitsideale.
Beim literarischen Lesen ist die Differenzierung zwischen Autor und Ich-Erzähler nicht immer einfach, das beste Beispiel ist aktuell wieder Michel Houellebecq und sein Roman "Serotonin", bei dem die Reden seiner literarischen Figuren mit politischen Statements des Autors gleichgesetzt werden. Zugegeben, der Vergleich hinkt etwas und trotzdem, es muss differenziert werden zwischen der Selbstinszenierung der Netzkünstlerinnen in den sozialen Medien und der künstlerischen Arbeit für Museen, Galerien, Kunstmessen und Fotofestivals. Und selbst wenn auf Instagram einmal eine Performance läuft wie "Excellences & Perfections" von Amalia Ulman, die Rollenklischees spiegelt und überzeichnet, indem sie die Entwicklung vom süßen Mädchen zur sexy Frau zeigt, hat diese Performance einen Anfang und ein Ende. Nach einer Performance wird ihr Account wieder visuelles Notizbuch, Tagebuch, Portfolio und Promo-Plattform.
"Das Internet ist ein performativer Ort", erinnert Arvida Byström. Das ist kein Geheimnis, sondern ein Allgemeinplatz: Menschen möchten zur Marke werden, sie inszenieren und kuratieren ihr Ich. Kunsthistoriker und Kunstkritiker wollen oft noch immer nichts mit den sozialen Medien zu tun haben, mitreden und eine Meinung haben, das wollen sie natürlich trotzdem. Statt also ergebnisoffen auf die Netzkünstlerinnen und ihre Arbeit außerhalb von Instagram zu schauen, bleibt der Blick an der Selbstdarstellung kleben, bleibt die Argumentation auf der Ebene des Vorurteils stehen.
Immer wieder werden übrigens die 1970er-Jahre und die Feministinnen der zweiten Welle angeführt, neben denen die Netzkünstlerinnen mit ihren Anliegen blass wirken, ist häufig zu lesen. "Die 70er Jahre sind das radikalste Jahrzehnt in der Geschichte der feministischen Kunst gewesen, die feministischen Künstlerinnen haben das Bild der Frau damals neu geschaffen", sagt Gabriele Schor. Sie ist Gründungsdirektorin der Sammlung Verbund in Wien, ihr Schwerpunkt ist die Feministische Avantgarde der 1970er-Jahre. Den Begriff hat Schor geprägt, sie hat die große Wanderausstellung zum Thema kuratiert, die viele Jahre international durch die großen Museen tourt. Wir telefonieren, weil ich von ihr wissen möchte, warum die Geschichte der Rezeption der feministischen Kunst auch eine Geschichte von Vorwürfen, Vorurteilen und hohen Ansprüchen ist.
Künstlerinnen hören oft, sie seien nicht so radikal wie es ihre Kolleginnen in den 70er Jahren waren, sagt Schor und gibt zu bedenken, dass die gesellschaftlichen Bedingungen heute andere sind. Es sei absurd, das den Künstlerinnen vorzuwerfen. "Jede Generation formuliert und verhandelt neu. Damals musste das konservative Bild der Frau aufgebrochen werden. Damals gab es nur einen Künstlertypus, das war der männliche Held", erklärt sie, "Künstlerinnen haben gegen diese Eindimensionalität gekämpft und dafür, dass sie sich selbst in einer Vielfalt darstellen dürfen. Heute sprechen sie die Sprache, wenn es um Selbstdarstellung geht, die für das jeweilige Medium angemessen ist." Schor ist verwundert, warum verhandelt werden muss, wer die bessere Feministin ist.
Oder noch besser: Wer der bessere Feminist ist. Vielleicht ist 2019 ein gutes Jahr, um darüber hinwegzukommen, dass Selbstdarstellung zu den sozialen Medien gehört. Und hoffentlich wird es wichtiger, das Patriarchat zu bekämpfen, statt eine junge Generation von Künstlerinnen, die gerade dabei ist, ihre ersten Erfahrungen mit dem Patriarchat in ihre Kunst einfließen zu lassen.
Anika Meier hat die Ausstellung "Virtual Normality. Netzkünstlerinnen 2.0" kuratiert, die 2018 im Museum der bildenden Künste Leipzig zu sehen war. Der Katalog "Virtual Normality. The Female Gaze in the Age of the Internet" ist im Verlag für moderne Kunst erschienen.