Und, wie sehen Sie sich in fünf Jahren? Wortkarg und verblüfft blicken Theo Montoyas Freund:innen in die Kamera, als er ihnen diese Frage stellt. Niemand kann sich zuversichtlich eine Zukunft ausmalen. Montoyas Umfeld, "die queeren Anderen" aus der kolumbianischen Stadt Medellín, bauen keine Luftschlösser, sie versuchen in der Gegenwart zu überleben. Die Zukunft ist für sie eine verschlossene Tür.
Vor sechs Jahren castete der kolumbianische Filmemacher verschiedene Personen für einen dystopischen Science-Fiction-Film über Geister. Er fand dabei Camilo Najar, der zum Tod ein enges, fast liebevolles Verhältnis pflegte. Camilo sollte die Hauptfigur für das Projekt werden.
Doch eine Woche später starb der 21-Jährige an einer Überdosis Heroin. Auf Instagram nannte er sich "Anhell69". Als weitere Todesfälle durch Suizide und Drogen im Freundeskreis folgen, verwirft Montoya das Projekt und porträtiert stattdessen seine queeren Kumpan:innen – eine immer noch von den Auswüchsen von Pablo Escobars Terror ausgelaugte Generation. Im pulsierenden Nachtleben versucht sie, Kompensation zu finden.
Exkommunizierung wegen Jesus-Masturbation
Montoya ist 1992, also ein Jahr vor dem Tod des Drogenbarons Escobar in Medellín geboren und ist selbst Teil dieser queeren Community. Mit 13 exkommunizierte ihn die Kirche, weil er gestand, zu Jesus Christus zu masturbieren. Im katholischen Medellín äußert sich Diskriminierung jedoch nicht nur anhand der "falschen" sexuellen Orientierung. Sie verhält sich intersektional, indem sich verschiedene Arten der Benachteiligung miteinander verflechten. So zeigt Montoyas Langfilmdebüt neben der rigiden Religion etwa auch die zermürbende Prekarität, der die queere Community ausgesetzt ist. Immer wieder geht es um Geld, das vorne und hinten nicht reicht.
Die Montage verwebt organisch Interviews, fiktionale Szenen wie exzessive, überhöhte Party-Sequenzen und dokumentarische Versatzstücke wie Archivmaterial, Alltagsbeobachtungen oder Casting-Material zu einem filmischen Hybrid. Der rote Faden ist dabei die immer wiederkehrende surreale Sequenz, von der Montoya als rückblickender Erzähler durch den Film leitet – tot in einem durch die Nacht fahrenden Leichenwagen.
Eine der in "Anhell69" Porträtierten ist die Drag Queen Sharlott Zodoma, die mit goldblonder Bob-Perücke und perfekt aufgetragenem Concealer ein imposantes Selbstbewusstsein verströmt. Dann ist da auch noch die 24-jährige trans Frau mit Septum-Piercing, Vollbart und steinhartem Blick, für die ihr "Name eigentlich keine Rolle spielt, da es niemanden kümmert." Fast alle der Gezeigten wuchsen vaterlos auf. Die Männer wurden im Drogenkrieg ermordet, brachten sich um oder verschwanden.
Tiefe durch Andeutung
Trotz des Friedensvertrags von 2016 zwischen der FARC-Guerilla und dem kolumbianischen Staat ist die Lebensrealität der Zivilbevölkerung auch heute noch von anhaltender Gewalt geprägt. Besonders alarmierend ist die Lage für LGBTQI+-Personen in Medellín, wie die Organisation Caribe Afirmativo analysiert. Zwischen Januar und Juli 2022 wurden dort etwa 15 schwule Männer ermordet.
In der Stadt beginnt Gewalt oft im Kleinen. Passanten zeigen mit dem Finger auf Personen, die sich anders kleiden. Solche Situationen können jedoch auch brutaler enden: "Ein lieber Freund von mir wurde in einem Park aufgespießt", erzählt ein Protagonist: "Echt jetzt!?", antwortet er sich selbst, "wir leben nicht mehr in der Zeit von Dracula."
Erstaunlich ruhig, manchmal fast sachlich, zeigt Montoya, wie begrenzt und gefährlich eine Lebensweise außerhalb der sexuellen und geschlechtlichen Norm sein kann – die queer-feministische Philosophin Judith Butler nennt diese die heterosexuelle Matrix. "Anhell69" deutet dabei Traumata der Porträtierten oft nur an und verleiht ihnen dadurch mehr Tiefe.
Rebellion gegen Sehgewohnheiten
Besonders hallt zudem die Regie-Entscheidung nach, die eigentlich verworfenen Casting-Interviews trotzdem zu zeigen: Denn die Mimik der Interviewten spiegelt das wahre Gesicht ihrer Traumata – nicht in den Worten, sondern in den Blicken der Betroffenen. Stumm starrt ein Protagonist in die Kamera und findet nichts zu sagen. Ein anderer wirkt gehemmt, lacht schüchtern und spricht über Banales. In immer identischer Einstellung sitzen die Interviewten dabei im gleichen grauen Raum. Montoyas statische Kamera drängt sich dabei nicht auf und wahrt behutsam Distanz.
Zudem rebelliert "Anhell69" durch Bildinhalte. Wir sehen etwa Stinkefinger, die queerfeindlichen Bewohner:innen aufmüpfig entgegenstreckt werden oder Aussagen, die sich gegen slut shaming richten. Besonders klug aber geht "Anhell69" gegen unsere filmischen Sehgewohnheiten vor, indem der Hybrid durch seine fluide Form ständig die Erzählebenen wechselt und so auflöst.
Als Leiche, die sprechen kann, springt Montoya von der Basiserzählung in die Geschichte des verworfenen, aber dennoch imaginierten Geisterfilms und von dort in rekonstruierte sinnliche Partyszenen. Auch die Grenzen zwischen Realem und Fiktivem verschwimmen. Somit greift "Anhell69" seinen Inhalt – genderfluide-Identitäten – in Form und im Genre clever auf. Eine poetische, zutiefst politische Geisterbeschwörung.