Der grüne LED-Countdown probt bereits für den Ernstfall und zählt immer wieder von Neuem runter. Nach Ablauf des Countdowns soll die Zerstörung beginnen: Dann mischen sich zwei Chemikalien, die einen heißen Dampf freisetzen, der alles um sich herum versengt. Eigentlich ist es ein Mechanismus, um vertrauliche Dokumente in Konsulaten oder Botschaften vor fremdem Zugriff zu bewahren. Doch in diesem Fall würden dem Feuersturm 16 bedeutsame Werke der Kunstgeschichte geopfert, deren Gesamtwert 40 Millionen US-Dollar beträgt. Die Kunstwerke werden wie Geiseln neben der Zeitbombe in einem tonnenschweren Tresorraum festgehalten, wo sie gleichzeitig vor Diebstahl geschützt sind. Es ist die bis dato größte und riskanteste Aktion des russischen Künstlers Andrej Molodkin.
Er selbst sagt: "Unser erklärtes Ziel ist, dass es niemals zur Vernichtung kommt." Nur in dem Fall, dass es einmal 24 Stunden lang kein Lebenszeichen vom inhaftierten Wikileaks-Gründer Julian Assange gibt, erreicht der Countdown sein Ende. Julian Assange ist zurzeit in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis und wird wegen seiner Enthüllungen der Spionage angeklagt. Ende Februar ist seine letzte Anhörung, danach soll er an die USA ausgeliefert werden, wo er als Landesverräter gilt, und wo es geheime Mordpläne gegen ihn gab, die später publik wurden.
Bei einer Auslieferung drohen Assange schwere Misshandlungen, schreibt etwa Amnesty International. Deshalb solle man höfliche Briefe und E-Mails an die US-Regierung schicken, viel mehr kann eine Privatperson da scheinbar nicht ausrichten. Es sei denn natürlich, man ist Künstler wie Andrej Molodkin. Mit seiner Aktion "Dead Man’s Switch" will er die US-Regierung an den Verhandlungstisch zurück zwingen und Julian Assange freipressen. Das Ultimatum lautet: Stirbt Assange, stirbt die Kunst im Tresor. Bleibt er in Haft, bleibt die Kunst ebenso lange weggesperrt. Sogar die Größe des Tresorraums ist Assanges Gefängniszelle nachempfunden. Die Kunstwerke sollen stellvertretend seine Bedrängnis nacherleben.
Werke von Warhol, Rauschenberg, Rembrandt und Picasso
Der Tresorraum und die Zeitbombe befinden sich hoch oben im französischen Teil der Pyrenäen, nur durch eine einzige Straße verbunden mit der Gemeinde Cauterets. Ringsherum sind ausgelassene Skifahrer unterwegs. Andere Touristen kommen für die heilende Wirkung der Thermalbäder. Molodkin, der sich schon 2004 erstmals in der beschaulichen Region niederließ und hier so etwas wie das lokale Enfant Terrible ist, mag hauptsächlich die Abgeschiedenheit. Die Distanz zur restlichen Kunstwelt bewahre seine Unabhängigkeit.
Er kaufte ein ehemaliges Sanatorium in den Bergen, das im 19. Jahrhundert ein beliebter Kurort der Pariser Intellektuellen war, man darf es sich von außen so ähnlich vorstellen wie das Vorbild für das Sanatorium in Thomas Manns "Zauberberg." Gleich in der Eingangshalle steht der Tresorraum, 29 Tonnen schwer und durch fünf Schlösser gesichert, die Zeitbombe darin ist ebenfalls auf dem neuesten Stand der Technik. Fehlte also nur noch die Kunst, der wichtigste Part.
Marina Abramović habe sofort Nein gesagt, als er sie um eine Arbeit bat. Ai Weiwei habe erst eine Zusage gegeben und sie dann zurückgezogen. Und Andres Serrano machte nur mit, weil er eine Schwäche für Molodkins verrückte Ideen habe, der übrigens selbst ebenfalls eine Arbeit beisteuerte. Ansonsten wurden viele der 16 Kunstwerke von Sammlern gespendet, darunter ein Warhol, ein Rauschenberg, ein Rembrandt, ein Picasso.
Mehr als ein leeres Bekenntnis
Seit etwa einem Jahr habe Molodkin Überzeugungsarbeit geleistet, um an die Kunstwerke zu kommen. Er sagt, er wollte unbedingt mehr tun, als ein leeres Bekenntnis wie das allgegenwärtige "Free Assange" abzugeben, das den meisten Menschen leicht über die Lippen komme, aber folgenlos bleibe.
Wie hat er argumentiert, um die Sammler zum Mitmachen zu bewegen? "Ich habe gesagt, dass jeder von uns der nächste Assange sein könnte." Sein Fall sei ein Wendepunkt für westliche Demokratien. Molodkin beschreibt ein Klima zunehmender Grundrechtseinschränkungen, für das er sowohl die politische Linke als auch die Rechten verantwortlich macht. Deshalb müsse man keine persönlichen Sympathien für Julian Assange hegen, um solidarisch mit ihm zu sein.
Die ganze Aktion wirkt zunächst, als könnte es genauso gut ein großer Betrug sein, ein Publicity-Stunt ohne echtes Risiko. Der "New Yorker", der zuerst über "Dead Man's Switch" berichtete, hatte laut eigener Aussage Einsicht in die Akten und Dokumente und kennt einzelne Werktitel, weiß also beispielsweise, um welchen Picasso genau es sich handelt. Im Rahmen eines rigorosen, zwei Wochen dauernden Faktenchecks sprach das Magazin mit beteiligten Künstlern und Kunstsammlern. Auch die Schätzung des Gesamtwerts auf 40 Millionen US-Dollar hielt dieser Überprüfung offenbar stand.
Vor allem aus Berlin reisten viele Techniker und Computerhacker unter falschem Namen in die französische Provinz, um mit anzupacken. Sie bauten eine gesicherte Verbindung zwischen der Zeitbombe und dem Umfeld von Julian Assange, das täglich von Neuem bestätigen kann, dass er noch am Leben ist. Man könnte meinen, Molodkin hätte somit monatelang auf akribische Art und Weise einen infernalischen Akt der Zerstörung von Kulturgut vorbereitet. Aber nein, das Gegenteil sei der Fall, sagt er, "all das Planen der Zerstörung dient letztlich dem Bewahren."
Man kann es zynisch finden, dass er bei "Dead Man’s Switch" von einer "Geiselnahme" spricht, während andernorts die Opfer realer Geiselnahmen betrauert werden. Dabei sei es gerade die Geringschätzung menschlichen Lebens, die ihn inspiriert habe. Bei den Klimaprotesten in Kunstmuseen sorgten die meist nur symbolischen Angriffe auf Meisterwerke für weit mehr Empörung als der drohende Verlust an Menschenleben durch den Klimawandel. Jeglicher Dialog, der sich an "Dead Man’s Switch" entzündet – sei es in den Medien oder tatsächlich in der Politik –, ist für Andrej Molodkin das wahre Kunststück, das er schaffen will.
Spur des Blutes
Das New Yorker Museum of Modern Art, das Guggenheim und andere Museen wurden mittlerweile informiert über die massive Kultur-Bombe. Ein in die Sache eingeweihter Journalist soll demnächst in der Pressekonferenz im Weißen Haus nachhaken, um den Druck auf die US-Regierung weiter zu erhöhen. Hinter Molodkin steht die britische Organisation a/political, die für ihre radikalen Aktionen bekannt ist.
Gegründet wurde sie 2013 vom Sammler Andrej Tretyakov aus Kasachstan, der auch den aktuellen Plan wieder unterstützt. Das Budget ist offenbar enorm. Allein beim Umbau des heruntergekommenen Sanatoriums zu einer Kunststätte und beim Kauf, Transport und Aufbau von Tresorraum und Bombe muss viel Geld geflossen sein.
In seine Heimat Russland könne Molodkin heutzutage nicht mehr zurückkehren. Das gelte spätestens, seitdem er 2022 ein Putin-Hologramm mit ukrainischem Blut übergossen hatte ("Putin Filled with Ukrainian Blood"). Das Blut ist sein wiederkehrendes Motiv. Durch eine hohle Skulptur der französischen Nationalfigur Marianne pumpte er bereits 2013 in blubbernden, knallenden Stößen das eigens dafür gespendete Blut von Asylsuchenden. Durch eine Skulptur des Weißen Hauses jagte er 2020 das gespendete Blut von US-Bürgern und projizierte das Resultat auf Außenwände in Washington D.C..
Letztere Präsentation wurde einmal gecancelt, weil es kurz zuvor wegen Joe Bidens Wahlsieg gewaltvolle Proteste gegeben hatte und Molodkins Blutskulpturen vor diesem Hintergrund als pietätlos galten. Klingt eigentlich wie eine nachvollziehbare Begründung, bestärkte Molodkin jedoch in seinem Verdacht, dass die Kunst sogar im Westen von Zensur bedroht sei.
Es erinnerte ihn an die 53. Venedig-Biennale von 2009. Damals zeigte er im russischen Pavillon eine Skulptur, in der sich das Blut eines russischen Soldaten mit tschetschenischem Erdöl mischte (Öl ist die zweite wichtige Flüssigkeit in seinem Schaffen), und ärgerte sich über die Gängelung durch die russische Kuratorin Olga Sviblova, die seinen Erklärtext aus dem Pavillon entfernen ließ.
Zwischen den Stühlen bequem gemacht
So macht es sich Molodkin immer demonstrativ zwischen den Stühlen bequem: Er behält es sich vor, Putins Angriffskrieg in der Ukraine zu verurteilen und Putins Kritik an den USA trotzdem manchmal zu teilen. Das stetig wachsende Bedürfnis, Menschen feinsäuberlich in politische Lager einzusortieren, sei für ihn mitschuldig am Verlust von Rede- und Meinungsfreiheit im Westen.
Zurück in seiner Villa in Maubourguet gießt er sich ein Glas Rotwein ein. Er erklärt, dass der Wein der Region wegen des harten Bodens unter einem besonderen Stress stünde, dass sich hier deshalb nur die stärksten Pflanzen durchsetzen könnten; jede Rebe eine Überlebende.
Als junger Mann, während seines sowjetischen Wehrdienstes, wurde er in einem Militärgefängnis inhaftiert. Es war das Gefängnis seines eigenen Stützpunkts, in das er gesteckt worden sei, weil er Anweisungen nicht befolgt und stattdessen Kugelschreiber-Zeichnungen angefertigt habe. Niemals habe er eine vergleichbare psychische Belastung erlebt, erzählt er. Die Pistolen der Wärter seien immer schon im Anschlag gewesen. Im Gespräch wird deutlich: Trotz allen Vorreden und konzeptuellen Erwägungen sympathisiert er letztlich auch auf einer persönlichen Ebene mit Julian Assange, dessen Inhaftierung eine Form von psychischer Folter sei.
Auf seinem iPhone präsentiert Molodkin eine Serie des russischen Fotografen Gueorgui Pinkhassov. Die Bilder zeigen Stella Assange und die Kinder des Paares, wie sie in der freien Natur um ihren Ehemann und Vater bangen. Das ist die emotionale Realität hinter der Drastik von "Dead Man’s Switch", die ihn sehr betroffen macht, mit der er sich aber nicht zu lange aufhalten will.
Im nächsten Moment steckt er das Handy schon wieder weg und kehrt zu seinen ausgeklügelten Skizzen für die Zeitbombe zurück. Die Fotos der Assange-Familie seien letztlich Sentimentalitäten – eine Währung, mit der man in der harten Welt von Andrej Molodkin noch nie besonders viel erreicht hat.