Elektromusik-Duo Amnesia Scanner

Im Kreuzfeuer der Stroboskope

Martti Kalliala und Ville Haimala sind Meister des konstruierten Chaos. Als Amnesia Scanner machen die Finnen kathartische Musik, die verstörend klingt und trotzdem eine enorme Sogkraft entfaltet. Zur ihrem Auftritt beim Atonal-Festival haben wir uns mit ihnen über Subkulturen, Popsongs und künstlerische Kollaboration unterhalten

Gemeinsam mit Ihrem Labelboss Bill Kouligas haben Sie unter dem Namen Lexachast Musik gemacht, die von Bildern des Künstlers Harm von der Dorpel begleitet wurde. Wie kam das Projekt zustande?

Martti Kalliala: Das ganze Projekt begann mit dieser kollaborativen improvisierten Performance, die wir gemeinsam mit Bill im ICA in London gezeigt haben. Von da an haben wir gemeinsam Musik gemacht. Damals fühlte es sich noch nicht richtig an, das Ganze auf ein Album zu packen, sogar ein Musikvideo fühlte sich irgendwie komisch an, deshalb entwickelten wir gemeinsam mit Harm diesen visuellen Stream of Consciousness, der die Musik begleitet.

Wie genau funktioniert der Stream?

Ville Haimala: Es ist ein Algorithmus, der basierend auf Hashtags wie #NSFW (Not Safe For Work) Bilder von Websites wie Flickr und Deviant Art bezieht. Obwohl sie von diesen großen Seiten stammt, ist es eine eher finstere Auswahl an Bildern, die dann zu verschiedenen bizarren Formationen verschwimmen. 
Martti Kalliala: Letztlich ist es ein total simpler Algorithmus, aber daraus entsteht trotzdem eine unglaubliche Komplexität. Basierend darauf haben wir dann noch mehr Musik mit Bill gemacht, und daraus wurde dann unser Album, das Anfang des Jahres rauskam. 

Dieses Umwandeln von Live-Performances in Alben ist häufiger Teil Ihres Arbeitsprozesses, richtig?

Ville Haimala: Live-Shows sind ein zentraler Teil unserer Praxis. Vieles probieren wir erstmal live aus. Gemeinsam mit den Visuals, die wir in Kollaboration mit dem Designstudio PWR entwickeln, wächst es organisch weiter. Die Alben sind dann Blöcke, die wir aus diesem Prozess herausschneiden. 

Die visuelle Sprache Ihrer Liveshows führt sich auch in Ihrer Website und Ihren Musikvideos fort. Sie erinnert an das Darkweb und den Generationsverlust von Deep Fried Memes

Ville Haimala: Ja, Deep Fried Music und Deep Fried Memes.
Martti Kalliala: Deep fried everything!

Schlägt sich Ihre Vorliebe für diese Ästhetik auch in Ihrer Onlinenutzung wieder? Sind Sie in den Tiefen des Internets unterwegs?

Ville Haimala: Momentan nicht, aber es gab schon Phasen, in denen wir einiges ausgegraben haben. Eine Menge unserer visuellen Recherche übernehmen momentan die Leute, mit denen wir kollaborieren. Aber die meiste Musik, die uns inspiriert, ist eher seltsam und subkulturell. Sie enthält Artefakte, Krach und Dreck. Wir stehen auf weirden Pop, verzerrten Reggaeton – Dinge, die schmutzig und imperfekt sind.
Martti Kalliala: Zu Beginn war Amnesia Scanner noch tiefer in der Internet-Subkultur verwurzelt.
Ville Haimala: Mittlerweile versuchen wir eher, unsere eigene Welt aufzubauen, die stellenweise einer Internet-Subkultur ähnelt. Wir bauen sie auf, indem wir Klang-, Bild- und Textelemente aus den verschiedensten Richtungen zusammenschmettern. Das Projekt ist nicht wirklich personenbasiert, es ist eher ein seltsamer, organisch wachsender Ort.

Diesen Ort erweitern Sie auch durch zahlreiche Kollaborationen – neben PWR Studios, Bill Kouligas und Harm van der Dorpel unter anderem mit Performancekünstlern wie Colin Self und Musikerinnen wie Pan Daijing und Holly Herdon.

Martti Kalliala: Das ist das Gute an dieser Idee, eine Welt aufzubauen: Es geht nicht um diese wertvolle kleine Sache, die wir beschützen wollen. Das Ganze ist dehnbarer, es ist einfacher, andere Leute einzubinden. Und das wollen wir auch weiterhin tun.

Ihr Hang zu Schmutz und Imperfektionen, den Sie eben angesprochen haben, merkt man Ihrer Musik definitiv an. Im Musikvideo zu "AS MEE" sieht man diesen unheimlichen Gummi-Stressball in Form eines Menschenkopfs, an dem Staub und Haare kleben. Dieses Bild fasst Ihre Ästhetik ziemlich gut zusammen. Gleichzeitig bedienen Sie sich mit Ihren ausufernden Live-Shows, die an EDM-Festivals erinnern, und mit Ihren Blockbuster-Soundeffekten auch an der Mainstreamkultur.

Ville Haimala: Wir fühlen uns sehr angezogen von Effektivität. In unseren Live-Shows versuchen wir, die Intensität bis zum Maximum aufzudrehen, sodass es den Leuten fast etwas zu viel wird. Wir nutzen diese Bühnenelemente und Lichteffekte, um es ein bisschen zu übertreiben und so ein seltsames und tripartiges Level zu erreichen.
Martti Kalliala: Wir kanalisieren gar nicht bewusst Mainstream-Kultur. Es ist vielmehr so, dass die EDM-Branche diese hyperkonstruierte Form des Dramas, diese Techniken und Technologien perfektioniert hat.
Ville Haimala: Es geht um Extreme der Emotionen und der Epik. Meiner Meinung nach gehen viele elektronische Musiker zu intellektuell an Emotionen heran. Wir versuchen hingegen, das Ganze auf ein cartoonhaftes Level zu bringen. 
 


Das Resultat fühlt sich wie ein Spiegel unserer Hyperrealität an – überfordernd und schrill, aber trotzdem auf eine undefinierbare Weise attraktiv.

Martti Kalliala: Wir wollen ein Format finden, das man noch verarbeiten kann. Unsere Musik ist weniger collagenartig und abstrakt als vieles, was in der Szene gespielt wird. Wir stehen nicht so sehr darauf, Dinge zu dekonstruieren. 

Sie waren beide ursprünglich Architekten und haben sich kennengelernt, als Sie gemeinsam einen Klub in Helsinki gestaltet haben. Betrachten Sie Ihre Konzerte als temporäre Räume?

Martti Kalliala: Genau. In gewisser Weise machen wir jeden Ort, an dem wir spielen, zu einem Amnesia Scanner-Raum. Wir arbeiten momentan auch an einigen Projekten, in denen wir das noch weiter führen und tatsächlich eine physikalische Umgebung bauen. Aber das ist momentan noch geheim.

Auf Ihrem aktuellen Soloalbum "Another Life" orientieren Sie sich an Popsong-Formaten. Was hat Sie darauf gebracht, diese Richtung einzuschlagen?

Martti Kalliala: Das hat mit der Zugänglichkeit zu tun, die ich eben angesprochen habe. Die Sounds sind rau, hart und verzerrt, aber sie sind als Pop verpackt. 
Ville Haimala: Die Strukturen von Pop-Songs gleichen Systemen, sie sind gewissermaßen Memes. Uns hat interessiert, was passiert, wenn man seltsames Zeug derartig arrangiert. Es ist anspruchsvoller, auf diese Weise Songs zu schreiben, als einfach eine Collage an Geräuschen zu erstellen.
Martti Kalliala: Außerdem sind die Songs ziemlich kurz. Viele Dance-Tracks sind eher gestreckt, deshalb schlagen wir die andere Richtung ein.
 


Wer nutzt die Strukturen des Pop Ihrer Meinung nach momentan am innovativsten? Welche Entwicklungen und Interpreten finden Sie spannend?

Ville Haimala: Viel spanisches und lateinamerikanisches Zeug. Auf unserem kommenden Album wird Lateinamerika stark vertreten sein. PNL und Rosalía, die weltweite Aufmerksamkeit erregt haben, K-Pop, der ja jetzt schon seit einer Weile groß ist – all diese anti-anglozentrischen Dinge! 
Martti Kalliala: Die Dynamiken des Ruhms haben sich mit den sozialen Medien stark verändert. Natürlich gibt es nach wie vor die gleichen Machthaber, die großen Labels und Studios. Aber immer, wenn etwas diese Strukturen zerbricht, finde ich das spannend. Der Ruhm von Lil Nas X fühlt sich beispielsweise ein wenig an wie ein Glitch im System, vor allem im Hip-Hop-Kontext.


Ihre Herangehensweise an Anonymität hat sich im Laufe Ihrer Karriere verändert. Zu Beginn war es ein kleines Mysterium, wer hinter Amnesia Scanner steckt, seit der Veröffentlichung von "Another Life" geben Sie Interviews und zeigen Ihre Gesichter. 

Ville Haimala: Es ging uns nie um Anonymität, der Fokus sollte bloß nicht auf uns liegen. Und dann kam dieser Moment, and dem die Anonymität auf einmal ein Ding geworden wäre, wenn wir die Sache nicht klargestellt hätten.

Die Anonymität hätte ebenso viel Raum eingenommen wie eine Künstlerfigur?

Ville Haimala: Genau. Und mittlerweile ist ausreichend Arbeit veröffentlicht, diese Welt ist groß genug geworden, um über sie zu reden. Vielleicht ist uns mittlerweile auch klarer, was wir eigentlich machen.
Martti Kalliala: Es war ohnehin nie wirklich ein Geheimnis. Ein paar Minuten auf Google und man hätte rausbekommen, wer wir sind. 

Sie sind beide Wahlberliner, ursprünglich kommen Sie aus Finnland. Wie nehmen Sie die Kreativszene in Berlin wahr?

Ville Haimala: Wir haben hier wie selbstverständlich unseresgleichen gefunden, sowohl im Kunst- als auch im Musikbereich. Im Moment passieren viele spannende Dinge.
Martti Kalliala: Gleichzeitig ist der Berlin-Traum, den es vor 15 Jahren mal gab, angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten definitiv tot. Die Dynamik ist anders, der Druck, sich zu professionalisieren, ist höher. 
Ville Haimala: Trotzdem herrscht im Vergleich zu anderen Hauptstädten eine gewisse kulturelle Infrastruktur – mit Festivals wie dem Atonal ist man beispielsweise wirklich verwöhnt. Höchstwahrscheinlich wird sich das Ganze leider in die falsche Richtung entwickeln, aber momentan ist es hier noch nett.