Fotos aus den späten DDR-Jahren

Bis an die Ränder einer flimmernden Republik

Zwischen Alltagsleben und Imaginationen: In Cottbus öffnet eine Ausstellung das Fotoalbum der letzten DDR-Jahre. Dabei umschiffen die Kuratorinnen Ost-Klischees und spielen mit der Vorstellungskraft des Publikums

Irgendwo draußen an einer Häuserfassade. Eine junge Frau mit schwarzen Stiefeln und kurzem Mantel hält ein Messer nicht so, wie die meisten ein Messer wahrscheinlich halten würden. Der Holzgriff lugt weit am unteren Handende hervor, während die linke Hand die Klinge umschließt. Ein gefährliches Unterfangen. Unklar bleibt, warum die Frau mit ihrer rechten Hand einen Rollladen davor bewahrt, herunterzurasseln. Will sie dahinter gleich das Küchenmesser vor den Augen einer hungrigen Meute verstecken? Zaubert sie im nächsten Moment eine Apfeltorte aus der Dunkelheit hervor? Oder deponiert sie dort die Tatwaffe?

"Es ist uns immer wichtig gewesen, eine poetische Ebene zu haben, die einen Schauwert für ihr Publikum mit sich bringt – ohne belehrend zu sein, ohne etwas vorzugeben", sagen die Kuratorinnen Annett Jahn und Ulrike Mönnig über ihre DDR-Gruppenausstellung "An den Rändern taumelt das Glück" in Cottbus. 

Mehr als 300 Bilder und 38 fotografische Positionen finden darin zusammen. Dafür hat das Duo in den drei mächtigen Räumen des Brandenburgischen Landesmuseums für moderne Kunst (BLMK) bis zum 11. Mai eine Art Zeitkapsel installiert – oder vielmehr: eine Zeitmaschine. Denn in dem ehemaligen Dieselkraftwerk wird nicht nur archiviert, sondern auch gereist – und zwar bis an die Ränder einer flimmernden Republik.

DDR-Bildwelten abseits des sozialistischen Realismus

Zurück zum Ausstellungsplakat: Es wirkt aus der Zeit gefallen; ein Bild, das weder Schwarz-Weiß ist noch vor Farbenfreude sprüht. Als würde jemand mit einem Social-Media-Filter den Vibe einer verloren geglaubten Zeit simulieren. Authentizität und Pose zugleich. Das Foto wurde 1985 von Matthias Leupold geschossen. Dabei machte ihn seine eigene Biografie in gewisser Weise bereits selbst zum Grenzgänger: Der in Ostberlin geborene und aufgewachsene Fotograf wurde unter anderem wegen Beihilfe zur Republikflucht inhaftiert. Leupolds DDR-Bildwelten finden größtenteils abseits des sozialistischen Realismus statt und entwerfen eine Art Gegenrealität.

So hält die Ausstellung auch noch weitere Bilder von ihm bereit. Auf einem davon stürmt dem Publikum ein Mann mit nacktem Oberkörper und lodernder Fackel entgegen. Neben dem Feuer trägt der junge Kerl einen grimmigen Blick, während er durch die Gänge eines Gemäuers zielsicher auf die Kamera zusteuert. Mystisch, aber auch ein bisschen angsteinflößend. 

Entstanden sind einige der Exponate neben Berlin auch in Weimar, Halle, Leipzig und Rostock-Lichtenhagen. Dabei lässt sich auf den ersten Blick nicht immer sagen, dass ein Bild in der DDR aufgenommen wurde. Weder bei Leupolds Messer-Frau und dem Fackel-Mann noch bei der Ansicht einer schneebedeckten Menschenmenge der in Thüringen geborenen Fotografin Christina Glanz. 

Inklusiver Raum der Möglichkeiten 

1975 zog der jährliche Gedenkzug für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an Glanz' Wohnhaus in der Hauptstadt vorbei, erklärt Kuratorin Ulrike Mönnig: "Es gibt verschiedene Erzählungen darüber, wie freiwillig oder unfreiwillig und mit welcher Intention die Menschen dort teilgenommen haben. Gleichzeitig spricht das Bild für sich. Man sieht die geduckte Menge und den Schnee, der auf ihr lastet, während die Bäume und die Fassade im Wetter verschwinden. Christina Glanz hat aus ihrem Fenster geschaut und nicht lang gezögert."

Annett Jahn ergänzt: "Wir haben meist ganz bewusst auf gewohnte Bilder verzichtet. Aufmärsche, Pioniere, FDJler, Soldaten – die gibt es auch bei uns hin und wieder zu sehen, aber sie stehen nicht im Vordergrund." Es ginge ihr und Mönnig vielmehr darum, etwas anzubieten, womit sich alle Besuchenden unabhängig von Alter und Herkunft verbinden könnten. 

So soll ein inklusiver Raum der Möglichkeiten entstehen, statt klarer Antworten und Urteile. "Wir wollten die Leute erst mal reinholen, ohne von vornherein zu sagen: 'Ihr gehört nicht dazu'", erklärt Jahn. Denn klar ist den beiden auch: Bei einer Ausstellung über die DDR besteht immer die Gefahr des voyeuristischen Blicks. Diesen findet man in Cottbus zum Glück nicht.

"Das Eigentliche im Nebensächlichen und Flüchtigen"

"Das Eigentliche zeigt sich oftmals im Nebensächlichen und Flüchtigen — im Daneben, Davor, Dahinter oder auch in der Abwesenheit. Die Fotografin Ingrid Hartmetz hatte zum Beispiel die Gelegenheit, ein Wochenende lang in einer Großwäscherei in Bad Freienwalde zu fotografieren. Keine Menschen, unbelebte Fotos, die doch verdichtet vom Leben und den Wäscherinnen erzählen", sagt Mönnig.

Während der Recherche zur Ausstellung besuchten die Kuratorinnen unter anderem die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB), um sich Abschlussarbeiten von ausländischen Studierenden anzuschauen – mit dem Ziel, den Blick auf die DDR zu weiten. "Haben die Studierenden vielleicht etwas anderes fotografiert? Und was sind deren Themen, wenn sie auf die DDR schauen?", sagt Jahn. 

So ist der in Cottbus gezeigte mongolische Fotograf Enkhbat Roozon etwa mittendrin, wenn er Szenen in einer Kneipe oder in einem Schlachthof ins Bild setzt. Ein Gespräch mit der HGB über die Zugänge, den Alltag und das Wirken jener Studierender gibt es im umfangreichen Katalog zur Ausstellung.

Und natürlich die Autobahn

Einen anderen "ausländischen" und nicht-weißen Blick findet man von dem in Tokio geborenen Fotografen Seiichi Furuya, den es als Übersetzer für eine japanische Baufirma mit Frau und kleinem Sohn 1984 in die Deutsche Demokratische Republik zog. Auf seinen stillen Farbbildern sieht man unter anderem DDR-Flaggen aus einem Häuserblock im Lichte einer untergehenden Sonne hängen.

Und dann gibt es da noch die zwei westdeutschen Studenten Hans Pieler und Wolf Lützen. Sie zeigen uns Lastwagen, Busse und Trabanten, die über die Autobahn rasen. Und natürlich die Autobahn selbst, mit ihrem kühlen Asphalt, mal eingebettet in Brachland, mal sieht man Hügel, mal zischen ein paar Bäume oder Tankstellen am Rand vorbei. 

Die Schwarz-Weiß-Serie entstand während eines Fototrips im Oktober 1984 auf der Transitstrecke zwischen Hamburg und Berlin. Mit einem VW-Bus fuhren Pieler und Lützen damals durch einen streng bewachten Korridor, der sie quer durch die DDR führte – Dokumentieren natürlich streng verboten. "Da war Abenteuerlust der Auslöser, um diese Fotos zu machen", erklärt Jahn.

Menschen in ihren Schattierungen

Auch "An den Rändern taumelt das Glück" ist letztlich ein Abenteuer. Der Ursprung des Projekts liegt im Jahr 2022, als in der ACC Galerie Weimar eine gleichnamige Ausstellung stattfand. Zwei Jahre später und nach tosendem Applaus zog die Bildersammlung im September 2024 dann in kleinerem Umfang an den Berliner Stadtrand in die NGbK nach Hellersdorf. 

In Cottbus entfaltet sich die Schau nun wieder in ihrer vollen Pracht. Besuchende erfahren eine vielfältige Motivlandschaft – von den Arbeiterinnen und Punks bis zu gemeinschaftlichen Festen und Momenten der Einsamkeit. Eine Ausstellung, der es gelingt, die Menschen der DDR in ihren Schattierungen und nicht als einheitliche und gefügige Masse zwischen Plattenbauten und Trabis darzustellen. Stattdessen öffnen Jahn und Mönnig einen Raum der Möglichkeiten. Dieser lädt zum Träumen, Erinnern und Rätseln ein.