Im Film ist Coming-of-Age ein eigenes Genre, denn kaum etwas ist berührender als die Phase der Jugend, in der Menschen sich auf die Suche nach sich selbst begeben. Erste Liebe, Aufbruch in die Freiheit, gepaart mit extremer Verletzlichkeit: Früher fand das unter rigidem Ausschluss der Eltern statt, unter den Augen der Peer Group, höchst privat. Doch das Vertrauen zwischen den Generationen ist zumindest in manchen Familien gewachsen, und in Zeiten von Social Media ist Privatheit relativ geworden. Was das Projekt "Indigo Nights" der Künstlerin Alona Harpaz möglich gemacht hat. Es ist eine Serie von Fotos, die Harpaz von ihrem Sohn Jonathan und dessen Freunden bekommen hat – Bilder von deren privaten Social Media Accounts, die ihren Alltag, ihre Feste, ihre Selbstinszenierungen zeigen. Ihre Auswahl und damit ihren Blick durchs Schlüsselloch zeigt sie nun in ihrer Ausstellung im Kurt Mühlenhaupt Museum: ein einfühlsames Kollektivporträt einer Berliner Jugend.
Das Projekt begann während der Coronazeit, die Jugendlichen waren 16, 17 Jahre alt und ihre Begegnungen oft klandestin und darum umso kostbarer. Wir sehen sie bei illegalen Raves an den Ufern der Berliner Seen, wir sehen sie in irgendeinem Jugendzimmer aufeinanderliegen wie junge Welpen und in die Kamera lachen. Wir sehen zwei Jungs sich küssen, nur so, sie sind Freunde. Wir sehen sie auf einer Demo, mit Maske, solidarisch. Man spürt die Vertrautheit zwischen ihnen, die Unbefangenheit auch zwischen den Geschlechtern, die Selbstverständlichkeit der Berührungen. Und die Euphorie, sich das eigene Leben einzurichten.
Die Jugendlichen, so sagt Harpaz, werden in der Öffentlichkeit oft als Generation dargestellt, die an die Bildschirme verloren ist. Doch was sie sieht und in ihrem Projekt festgehalten hat, ist Authentizität und eine soziale Intelligenz, die sich mischt mit der Fähigkeit von jungen Großstädtern, die Freiräume ihrer Stadt zu erobern. Sie seien schneller und viel weniger kindlich als sie selbst im gleichen Alter, sagt Harpaz, die ihre Spielwiese beim Aufwachsen in den 1980er-Jahren in den Hinterhöfen von Tel Aviv fand. Sie hat zwei Fotos von sich mit in die Präsentation geschmuggelt, Selbstporträts, die sie mit 20 machte, als sie nach dem Aufbruch aus Israel New York erforschte so wie die Kinder jetzt Berlin.
Freundliche Voyeurin und liebende Mutter
Harpaz Blick bei diesem Projekt ist der eines freundlichen Voyeurs und gleichzeitig der der liebenden Mutter, die ihr Kind in die Freiheit begleitet, mit Fotos als Spiegel und Begleiter. Das Schlüsselbild der Serie zeigt ihren Sohn Jonathan mit nacktem Oberkörper in einer Küche stehend, das Smartphone in der Hand, mit offenem Blick in die Kamera. Dieses Bild findet sich nun zweimal in der Ausstellung, einmal als Fotoabzug und einmal als Gemälde. Denn eigentlich besteht Harpaz' künstlerische Praxis hauptsächlich aus Malerei: reduzierte Porträts, in denen sie mit ein paar Strichen die Essenz einer Pose erfasst, dazu abstraktere Farbkompositionen, die sich manchmal als Blumen tarnen, manchmal schlicht ihrer eigenen, leuchtenden Logik folgen.
Harpaz, die seit rund 20 Jahren in Berlin lebt, ist eine der zentralen Figuren der israelischen Kunstcommunity der Stadt, sie betrieb jahrelang einen Projektraum, in dem zahlreiche Ausstellungen mit israelischen Künstlerinnen und Künstlern gezeigt wurden. Als das Mühlenhaupt-Museum in Kreuzberg, das sich hauptsächlich dem Erbe des 2006 verstorbenen Kreuzberger Malerpoeten Kurt Mühlenhaupt widmet, sie zu der Ausstellung einlud, erwarteten sie einen aktuellen politischen Kommentar von ihr – den Harpaz mit dieser Schau bewusst verweigert.
Die politische Situation findet sich an den Rändern wieder: In einer Neonarbeit über einer Tür mit dem Satz "Mein Schatz, wir haben Europa erreicht" – in arabischer Schrift. Es ist der Satz eines syrischen Flüchtlings zu seinem Kind, den Harpaz 2018 in dieser Arbeit zitierte.
Wer findet wie seinen Ort?
Und wir finden die Politik wieder in Harpaz' Videotrilogie "Salts" (2014-2017), die in einem Nebenraum zu sehen ist. Darin begleitet sie ihren Vater Ehud, ein ehemaliger Kibuzzim, ungebeugt vom Alter, seine Geschichte als Fallschirmspringer in den Kriegen der 1960er- und 1970er-Jahre ist in sein Gesicht eingraviert. Wir sehen, wie er eine Gruppe von inbrünstig singender Christen aus Ghana durch Jerusalem führt, als nicht-religiöser Jude, eine gleichzeitig absurdes und präzises Bild für die vielfältigen Projektionen auf diesen in vielen Religionen heiligen Ort. Wir sehen ihn im Kreise seiner Veteranenkameraden, ältere Männer, deren Bäuche sich mit den Jahren gerundet haben, die Heldenstatus haben und deren überwältigende Normalität ihn gleichzeitig in Frage stellt. Und wir sehen ihn bei einer Veranstaltung in einer riesigen Turnhalle, gemeinsam mit anderen vertieft in einen Tanz, der Volks- und europäische Standardtänze miteinander verbindet und von einer sehr heterogenen Menge als Mischung aus Gymnastik und gesellschaftlichem Ereignis zelebriert wird – ein säkulares Ritual das diese heterogene Einwanderergesellschaft zusammenhält.
Der Name der Trilogie bezieht sich auf den Begriff "Salz der Erde", der ursprünglich aus dem Neuen Testament stammt, in Israel aber oft für Menschen verwendet wird, die als Rückgrat der Gesellschaft angesehen werden. Es sind Menschen wie Harpaz' Vater, der für sein Land gekämpft hat - und seit Jahren nicht aufhört, gegen die aktuelle israelische Regierung auf die Straßen zu gehen.
Wie entsteht Gemeinschaft? Wer findet wie seinen Ort? Ehud, Alona und Jonathan Harpaz haben für diese Fragen jeweils ganz eigene Antworten. Wo ihre Hoffnung liegt, verrät Alona Harpaz in dem Titel ihrer Ausstellung: "Future Breeze".