Man klettert über einen Haufen Scherben und steht im Dschungel. Im Innenhof des verlassenen Hauses der Statistik in Berlin Mitte wuchert das Grün meterhoch. "So sieht das aus, wenn man die Natur zehn Jahre lang sich selbst überlässt", sagt Künstler und Kurator Harry Sachs. "Und ungefähr so stellen wir uns auch unser Projekt hier vor: Es wächst von unten."
Sachs ist Teil des Künstlerkollektivs Kunstrepublik, das sich unter anderem am Zentrum für Kunst und Urbanistik (ZK/U), aber auch in der Initiative für das Haus der Statistik für eine am Gemeinwohl orientierte Stadt einsetzt. Der große modernistische Block nahe am Alexanderplatz wurde Ende der 60er-Jahre als Sitz der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR erbaut, nach der Wende als Bürohaus weitergenutzt – bis es vor über zehn Jahren freigezogen und bis zum geplanten Verkauf an einen meistbietenden Investor zum Abenteuerspielplatz für Graffiti-Sprayer wurde.
Knapp 50 000 Quadratmeter Leerstand mitten in Berlin? Das darf man nicht verschleudern, fanden Sachs und zahlreiche andere Berliner Aktivisten und landeten im September 2015 einen Coup: Sie hängten während der Berlin Art Week 2015 ein sehr offiziell aussehendes Plakat aus dem Fenster, das behauptete, im Haus der
Statistik entstünden nun Räume für Kunst, Kultur und Soziales. Frechheit siegte, eine Debatte kam in Gang, der Senat wurde überzeugt – und in einem komplizierten
Prozess mit vielen Akteuren wurde ein neues Haus der Statistik als Raum für Kultur, Soziales, Bildung und bezahlbares Wohnen geplant, komplettiert mit einem neuen Rathaus und Verwaltungsgebäuden.
"Pioniernutzungen" zur Art Week
Zurzeit werden die bestehenden Gebäude entkernt und für die Sanierung vorbereitet, noch türmt sich der Schutt vor den leeren Fensterhöhlen. Wie das Gelände mitsamt vieler Neubauten nach dem Entwurf des Berliner Architekturbüros Teleinternetcafe und der Hamburger Landschaftsarchitekten Treibhaus mal aussehen soll, kann man auf einem Modell im Foyer des alten Hauses der Statistik sehen. Schon jetzt finden regelmäßig Veranstaltungen und Workshops statt. Zur Berlin Art Week soll das Haus der Statistik sich zum ersten Mal einem größeren Publikum öffnen: mit einer Präsentationswoche und einem Kongress, die das ZK/U gemeinsam mit dem KW Institute for Contemporary Art organisieren. Dann kann man besichtigen, was Harry Sachs als einer der Kuratoren dieser Statista-Präsentationswoche die "Pioniernutzungen" nennt.
Einige dieser Pioniere sind klein und summen: In den alten Büroräumen in der ersten Etage werden gerade in Kästen aus alten Fenstern die ersten Bienenvölker angesiedelt. Verschiedene Künstlergruppen, Programmierer und Imker arbeiten hier an "BeeCoin", einer neuen Kryptowährung, bei der das Wohlergehen der Bienen über komplizierte digitale Messvorrichtungen Wert generieren soll. "Wer weiß, vielleicht wird BeeCoin irgendwann mal zu einer Art Gemeinschaftswährung hier im Haus", sagt Sachs.
Ein Chor und Lebensraum für verschiedene Spezies
Die Künstlergruppe Labor K3000 um Marion von Osten entwickelt außerdem eine modellhafte Fassade für das Haus, die auch anderen Spezies ein Zuhause bietet. Die Gruppe Raumlaborberlin gründet mit der Musikerin Bernadette La Hengst einen Chor. Und schon lange bevor das ehemalige Bürogelände zu einem bunten Nebeneinander von Wohnen, Kunst und Gewerbe wird, finden Projekte mit der Nachbarschaft ihren Platz in einem Pavillon auf dem Parkplatz des Gebäudes, auf dem früher mal Autoscooter umherflitzten.
Bei dem Statista-Kongress zur Berlin Art Week, der in der ehemaligen Kantine des Hauses der Statistik stattfinden soll, geht es um Möglichkeiten, wie Künstler städtischen Raum gestalten können und mit Nachbarschaften zusammenarbeiten. Erwartet werden unter anderem Mitglieder des indonesischen Kollektivs Ruangrupa, das auch die nächste Documenta kuratieren wird, Chto Delat aus Petersburg oder die Macher der Prinzessinnengärten aus Berlin. Das Motto leuchtet schon längst in großen Buchstaben auf dem Dach des Hauses: "Allesandersplatz".